5. Werther: Der empfindsame Mann

Don Giovanni und der Marquis de Sade halten beide an der phantastischen Perspektive einer frei sich entfaltenden Geschlechtlichkeit im Rahmen einer zum Sozialverhältnis sui generis privatisierten Geschlechterbeziehung fest und versuchen, den solch freier Entfaltung eines privaten Geschlechtslebens entgegenstehenden und in der Form einer quasi antithetischen Triebdisposition, in der Form der wesentlich weiblichen Tugend, wirksamen gesellschaftlichen Widerstand schönrednerisch zu überlisten beziehungsweise berserkerhaft zu überwinden. Beide bekommen sie die unwiderstehliche Macht der Tugend beziehungsweise des in ihr sich spezifisch artikulierenden gesellschaftlichen Widerstandes zu spüren: Don Giovanni büßt seine Überlistungsmanöver mit der schließlichen Selbstzerstörung, der Marquis bezahlt seine Überwindungsversuche mit der fortwährenden Zerstörung seiner sexuellen Objekte. Sowenig beide das Resultat, das ihr eigenes, als männlich-triebhafte Motion bestimmtes Beginnen provoziert, nämlich die dieser Motion einen Riegel vorschiebende weiblich-seelenvolle Tugend, als fait accompli zu akzeptieren bereit, sosehr sie vielmehr bemüht sind, der Geschlechtsperspektive gegen allen Widerstand zu uneingeschränkter Geltung zu verhelfen, und sosehr sie sich in diesem Punkte von der normalen, auf Kompromißbreitschaft oder vielmehr Lern- und Anpassungsfähigkeit abgestellten Eheanbahnungstradition Richardsonscher Provenienz und Austenschen Zuschnitts unterscheiden, sosehr stimmen sie doch mit dieser Tradition im Prinzip, nämlich darin, daß als Auslöser des ganzen Geschehens die männlich-triebhafte Motion fungiert, überein und halten sich im Rahmen der von der Tradition vorgegebenen dichotomischen Geschlechterstruktur, der Konstellation aus sexuell verlangendem, aggressiv lustorientiertem Mann und seelenvoll sich verweigernder, reaktiv pflichtbewußter Frau.

Wie der Richardsonschen Tradition, der die freie Geschlechtsbeziehung als eine Provokation sich darbietet, die es im Interesse der bürgerlichen Gesellschaft im allgemeinen und ihrer weiblichen Mitglieder im besonderen abzuwehren beziehungsweise zu bewältigen gilt, erscheint auch den beiden Abweichlern und Rebellen, so entschieden sie sich auf die Seite der Provokation schlagen mögen, die geschlechtsperspektivisch beschworene Grundfigur unverändert als ein Pas-de-deux, bei dem ganz im komplementären Einklang mit der geschlechterrollenspezifischen Machtverteilung und Funktionentrennung der aus der Gesellschaft ins Privatleben heimkehrende Mann die sexuelle Aktivität entfaltet und, dem Ruf der Natur folgend, die Rolle des Triebwesens spielt, während die im Kerker ihres Privatlebens auf soziale Anerkennung dringende Frau die seelenvolle Reaktionsbildung zeitigt und, das Interesse der Gesellschaft vertretend, den Tugendpart übernimmt. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß beim Marquis wegen der Reduktion der sexuellen Beziehung auf die nackte Leiblichkeit und wegen deren Pervertierung in einen egalen Träger und ein unterschiedsloses Gefäß eingefleischter gesellschaftlicher Rücksichten und Gestalt gewordener moralischer Ansprüche die biologischen Geschlechter austauschbar werden und in der einen wie der anderen Rolle figurieren können: Was bleibt, ist die traditionelle Rollenkonstellation, dies also, daß sich unabhängig von der biologischen Geschlechtszugehörigkeit stets ein den natürlichen Trieb personifizierender Täter und ein die gesellschaftliche Rücksicht verkörperndes Opfer gegenüberstehen.

Genau im Punkte dieses Grundmusters der privaten Geschlechtsbeziehung, die das veränderte, bürgerliche Organisationsmodell gesellschaftlicher Arbeit dem von der Veränderung relativ begünstigten Mann in Aussicht stellt und die in der beschriebenen Weise und mit den geschilderten Konsequenzen seine sexuelle Phantasietätigkeit beflügelt – in puncto dieser Grundstruktur also macht Goethes Werther eine ebenso zukunftsträchtige wie interessante Ausnahme. Grund für den Sonderweg, den Werther beschreitet, ist die zur regelrechten intentionalen Brechung geratende initiale Hemmung, die seine sexuelle Motion befällt. Oder vielmehr ist die Hemmung, insofern sie Ausdruck einer Reflexionsbewegung ist, ebensowohl und besser als eine Reorientierug beschrieben. Nicht die Frau als libidinöses Gegenüber, als Sexualpartner, ist Objekt der Wertherschen Motion, sondern die Frau in der reaktionsbildnerischen Form tugendhaften Gefühlsüberschwanges, in die sie allererst durch die sexuelle Motion des Mannes, seine geschlechtsperspektivische Zudringlichkeit, versetzt wird. Statt sich auf die traditionell-männliche Weise sexuell-aktiv oder aggressiv-fordernd, kurz, als Täter, gegenüber der Frau zu verhalten und das bei ihr als dem passiv-reaktiven Opfer erzielte Resultat seelenvoller Empfindsamkeit hiernach zur Kenntnis zu nehmen und sei's bußfertig gutzuheißen, sei's realistisch zu akzeptieren, sei's listenreich oder gewalttätig abzulehnen, setzt Werther dies Resultat als fait accompli voraus und macht es zum originären Objekt seines Begehrens, läßt also seine ganz und gar nicht mehr aggressive und auch eigentlich gar nicht mehr im gewohnten Sinn sexuelle Motion gleich zu Anfang jener weiblich seelenvollen Empfindsamkeit gelten, die er doch eigentlich durch die nach herkömmlicher Manier vorgetragene sexuelle Motion erst einmal auf den Plan rufen müßte.

Einem merkwürdigen Triebschicksal gehorchend, verliebt sich Werther gleich eingangs nicht in die leibliche Person, sondern in die seelische Emotion, mit der diese seine Liebe beantwortet, verlangt es ihn nicht nach der Frau, die das männliche Verlangen erregt, sondern nach der Gefühlswelt, die in Reaktion auf das geweckte männliche Verlangen die Frau entfaltet. Diese Verschiebung der libidinösen Besetzung weg vom unmittelbaren Objekt der Begierde und hin zur Reaktionsbildung, mit der das Objekt auf die Begierde antwortet, hat nicht nur die besagte Entsexualisierung zur Folge, sie verändert auch von Grund auf die Intentionen und Positionen derer, die durch das entsexualisierte Verhältnis aufeinander bezogen sind.

Dabei ist die Rede vom entsexualisierten Verhältnis gar nicht die ganze Wahrheit und trifft nicht den entscheidenden Punkt. Entsexualisiert ist, wie gezeigt, das durch die weibliche Reaktionsbildung seelenvoller Empfindsamkeit bestimmte Verhältnis der Geschlechter ja nur um den Preis und im Sinne einer spezifischen und ebenso durchgängigen wie latenten Sexualisierung der weiblichen Reaktionsbildung selbst. Was die Frau mit ihrer Abwehr der sexuellen Motion des Mannes vollbringt, ist ja dies, daß sie das pièce de résistence ihrer Abwehr, den gesellschaftlichen Widerstand gegen die vom Mann in Vorschlag gebrachte Reduktion des Geschlechterverhältnisses auf eine reine Geschlechtsbeziehung, qua Bekenntnis zur Tugend und Kult der um die Tugend gescharten Jungfräulichkeit zum Objekt und vielmehr Fetisch einer sexuellen Ersatzhandlung, eines quasisexuellen Treibens zweckentfremdet. Indem die Frau zur Abwehr der sexuellen Motion des Mannes ihre Tugend auf den Plan ruft und sich dieser Tugend mit eben der Hingabe weiht, zu der sie der Mann ihm selbst und seinem Begehren gegenüber bewegen möchte, überführt sie umstandslos virtuelle Brunst in aktuelle Inbrunst, reklamierte Triebmotion in realisierte Emotion, verpönten sexuellen Erguß in schöne seelische Ergießung, und versteht es damit, die der Geschlechtsperspektive als solcher bezeigte Versagungshaltung in die Form eines dieser Perspektive abgeschauten quasisexuell-befriedigenden Verhaltens zu kleiden.

Soweit der Mann nicht à la Don Giovanni und Marquis de Sade an seiner Motion uneingeschränkt festhält und die seelenvolle Abwehrreaktion der Frau sei's mit List zu überwinden, sei's mit Gewalt zu durchbrechen sucht, soweit er sich also à la Richardson auf den tugendhaften Bescheid als auf ein in Rechnung zu stellendes und Geltung erlangendes Ergebnis seiner Motion einläßt, kann er dieser weiblichen Abwehrreaktion durchaus einen Reiz abgewinnen, kann er sie eben wegen ihrer quasisexuellen Emotion und seelenfeuchten Empfindsamkeit durchaus als eine seiner Motion korrespondierende Reaktion, als Zeichen einer von ihm erzeugten inneren Betroffenheit und heimlichen Engagiertheit seines weiblichen Gegenüber goutieren. Aber mit dieser seelenvollen Haltung sich dauerhaft ins Benehmen setzen und einrichten, auf sie als auf eine partnerschaftliche Ausdrucksform, eine Grundlage für Gemeinsamkeit des Erlebens und Entsprechung der Herzen sich beziehen kann er nicht. Zu offenkundig ist dieses Kompromißgebilde des den Widerstand gegen die sexuelle Versuchung mit quasisexuellen Konnotationen zelebrierenden weiblichen Tugendkults von Beziehungslosigkeit nach außen geprägt, zu sehr erfüllt die seelenvolle Jungfräulichkeit der in Abwehr zerfließenden Frau den Tatbestand einer mittels lustvoller Verklärung der Unlust errungenen narzißtischen Autarkie, eines die Absage ans Erleben zur unendlichen Selbstbespiegelungsveranstaltung geraten lassenden reflexiven Eigenlebens, als daß die Teilhabe des Mannes an diesem Kult mehr sein könnte als eine voyeuristisch distanzierte Beobachtung des Geschehens. Weil die Frau in Reaktion auf die männliche Herausforderung in sich geht, um an eben der ins Triebhaft-Innere verlegten gesellschaftlichen Zensurinstanz, die sie am Aussichherausgehen hindert, die Bewegung des extensiven Aussichherausgehens als intensives Reflexionsverhalten zu zelebrieren, ist sie der Verführung durch die Außenwelt ein für allemal entzogen und versetzt den düpierten Mann in die Rolle des zu absoluter Passivität und Einflußlosigkeit verurteilten Verehrers, der zur Strafe für seine Zudringlichkeit die lustvollen Qualen des Voyeurs erleidet und nämlich ad infinitum mitansehen muß, wie die Frau mit sich selber treibt, was eigentlich er mit ihr hat treiben wollen.

So ausweglos wegen seiner zirkulären Innerlichkeit und unendlichen Reflexivität der weibliche Seelenkult selbst ist, so ausweglos ist auch der in einer Mischung aus Lust und Qual an ihm sich ergötzende männliche Voyeurismus: Wie jener seiner inneren Logik nach bestimmt ist, sich im Wortsinne totzulaufen und seine Praktikantin einem schwindsüchtigen Selbstverzehr zu überantworten, ist dieser dazu verurteilt, dem Selbstverzehr ebenso beziehungs- wie machtlos bis ans bittere Ende beizuwohnen. Und deshalb ist es das natürliche Interesse des Mannes nicht weniger als der Frau, aus dieser ausweglosen Situation auszubrechen, diesem Teufelskreis den Rücken zu kehren, und den quasisexuellen Empfindsamkeitskult zugunsten eines entsexualisierten Familienlebens ad adcta zu legen, sprich, jene Abdankung der durch die asozial sexuelle Motion des Mannes provozierten weiblichen Reaktionsbildung zu vollziehen, die der Reaktionsbildung selbst mitsamt der sie provozierenden Motion post festum den instrumentellen Charakter einer bloßen Einübung in die Ehe, eines bloßen Propädeutikums für den Eintritt in die zur Zeugung und Aufzucht von Kindern geschaffene gesellschaftliche Institution der Familie verleiht.

Ganz anders bei Werther! Nichts liegt ihm ferner als der Ausbruch aus der ausweglosen Situation, die Abdankung des in zirkulärer Selbstbefriedigung ins Unendliche kontinuierten Empfindsamkeitskults. Eben das, was dem normalen Mann in Richtung auf Ehe und Familie Beine macht, weil es ihn in der Sackgasse eines ebenso schlecht unendlichen wie beziehungslosen Voyeurismus arretiert, nämlich die narzißtische Autarkie der in seelenvoller Inbrunst zerfließenden Jungfrau, ist für Werther ja gerade das originäre Objekt, um das es ihm geht, der Faszinationspunkt, an den er fixiert ist, das Phänomen der Begierde, nach dem er strebt. Der in Reaktion auf den sexuellen Antrag des Mannes hervorgetriebenen weiblichen Innerlichkeit, ihrer quasisexuellen Empfindsamkeit und Seelentiefe – ihr nur gilt seine Liebe, ihr gehört seine Leidenschaft, einzig und allein auf sie als auf das unmittelbare Telos und wesentliche Anliegen seiner Beziehung zum anderen Geschlecht ist er bezogen, ausschließlich an ihr als am Inbegriff sexueller Erfüllung möchte er teilhaben. Wie aber kann er an etwas teilhaben wollen, das durch narzißtische Autarkie jede Teilhabe doch gerade kategorisch ausschließt, wie kann er sich auf etwas beziehen, das Beziehungslosigkeit als den Verstand seines Daseins praktiziert? Wie, wenn nicht in der Form eben jenes um jede Einflußmöglichkeit, jede aktive Mitwirkung gebrachten Voyeurismus, der seinen Geschlechtsgenossen im Gegenteil zum zwingenden Motiv wird, Abstand von allem Vorhaben einer privatim realisierten Geschlechtsbeziehung zu nehmen und sich dem Haben eines qua Ehe und Familie gesellschaftlich vermittelten Geschlechterverhältnisses zu fügen?

Eine einzige nichtvoyeuristische Art von Teilhabe bleibt indes auch im Blick auf solch narzißitstische Autarkie möglich, und sie ist es, die Werther in Wahrheit anstrebt und die ihn davor bewahrt, eine bloße Gegenversion zum männlichen Normalverhalten zu praktizieren, sprich, den Part der als Ausnahme von der Regel des Normalverhaltens firmierenden Perversion zu spielen: nämlich Teilhabe nicht im Sinne einer objektiven Partizipation an der weiblichen Empfindsamkeit und Zuwendung zu ihr, sondern in der Bedeutung ihrer projektiven Imitation und Abbildung. Nicht auf die in Inbrunst zerfließende schöne Seele der Frau als auf ein Objekt seiner Begierde sich beziehen, zu ihr sich verhalten, mit ihr Umgang pflegen will Werther, sondern auf sie als auf ein eigenes Projekt eingehen, zu ihr überlaufen und in ihr sich selbst wiederfinden möchte er. Nicht voyeuristisch als objektives Gegenüber faßt er die seelenvolle Emotionalität ins Auge, sondern identifikatorisch als eigenes Projekt nimmt er sie wahr. Nicht eine notwendig als Perversion männlichen Normalverhaltens erscheinende Relation zu ihr möchte er herstellen, sondern eine das männliche Normalverhalten transzendierende Konversion zu ihr will er vollziehen. Was die Weiblichkeit ihm vormacht, will Werther sich zu eigen machen, die seelische Verfassung, die sie an den Tag legt und die ihr Privileg ist, will auch er unter Beweis stellen und als sein natürliches Recht in Anspruch nehmen; kurz, Werther strebt nicht nach einer Geschlechtsbeziehung, sondern nach einem Wechsel des Geschlechts oder, besser gesagt, da ja die quasisexuelle Empfindsamkeit, nach der ihn gelüstet, kein biologisches oder auch nur kulturanthropologisches Merkmal der Frau ist, sondern bloß eine ihr zugewiesene ökonomisch bedingte soziale Rolle, nach einem Wechsel der Geschlechterrolle.

Löst sich so aber das Rätsel der eigentlich zum Voyeurismus verurteilenden Wertherschen Fixierung auf die weiblich schöne Seele im Sinne einer nicht objektiv-okkupatorischen, sondern projektiv-imitatorischen und in der Tat also auch nicht interessiert-voyeuristischen, sondern engagiert-identifikatorischen Teilhabe auf, so ist klar, daß in diesem Verhältnis die Rolle der Frau von Grund auf verändert ist und daß im Blick auf das weibliche Gegenüber von einer irgend personalen Beziehung, ganz zu schweigen von so etwas wie einer sexuellen Verbindung, nicht im geringsten die Rede mehr sein kann. Weil die Frau keineswegs mehr sexuelles Objekt, sondern nur noch emotionales Projekt des Mannes ist, weil dem Mann der Empfindsamkeitskult, den sie zelebriert, nicht mehr als Reaktion auf sein geschlechtliches Verlangen, sondern bloß noch als Parallelaktion zu seinem persönlichen Streben gilt, reduziert sie sich für ihn auf die paradigmatische Trägerin und exemplarische Erscheinung seines eigenen, ihm als Sollbestimmung vor Augen stehenden Wesens. Wie sie ist, möchte er sein, was sie zur Erscheinung bringt, möchte er in sich bergen. Aus der Partnerin, auf die er sich bezieht, wird die Seelenverwandte, in der er sich wiederfindet, aus dem Du, dem Liebesobjekt, wird das andere Ich, das Alterego. Nur konsequent, daß die Frau als Gegenüber zu verschwinden tendiert, um dem gemeinsamen Wesen, das sie bloß paradigmatisch repräsentiert, Platz zu machen: dem seelenvollen Dasein und überschwenglichen Gefühlsleben, das als Natur erlebt wird – gleichermaßen als die eigene, innere Natur, in deren unendlicher Tiefe und Intensität Werther versinkt, und als die umgebende, äußere Natur, die er als projektiven Ausdruck und sinnenfälliges Symbol der eigenen Natur in Anspruch nimmt und in deren unermeßlicher Weite und Allhaftigkeit er sich verliert.

In Natur sich spiegelnd und in Natur sich verströmend, erlebt Werther jene quasisexuellen Erregungszustände und seelenfeuchten Ergüsse, die bis dahin Privileg der in die Privatsphäre gebannten und gegen die sexuellen Nachstellungen des Mannes ihre bürgerliche Identität und personale Integrität wahrenden Frau sind. Das weibliche Gegenüber braucht er ausschließlich in der Funktion eines Vorbilds und wegweisenden Beispiels, als eine Diotima, die ihn in die Mysterien des durch seinen Teilhabeanspruch zum allgemeinen Naturkult entspezifizierten Tugendkults einführt. Hat sie dies getan, ist sie eigentlich entbehrlich, weil der Narzißmus seines Naturverhältnisses ihm eben die emotionale Autarkie schenkt, um die er die jungfräuliche Frau beneidet und die für sich selbst zu gewinnen, der letzte Zweck seiner Beziehung zum anderen Geschlecht ist. Eine Rolle spielt das weibliche Gegenüber höchstens noch als das verwandte Gemüt, das sie bleibt, als die Konsortin, die durch ihr paralleles Empfinden, durch den Einklang der Seelen, die Korrespondenz der Herzen, das dem Manne eigene Erleben bestätigt und im Sinne eines Resonanzphänomens verstärkt. Redender Ausdruck dieses in emotionaler Parallelität aufgehenden Verhältnisses der Geschlechter ist die Zurücknahme allen leiblich-sinnlichen Kontakts auf eine reine Symbolhandlung, den verständnisinnigen Blick, äußerstenfalls eine verstohlene Berührung der Hände.

Wie in Goethes Konstruktion der Geschlechtsbeziehung die mit der idealen Natur des Mannes selbst identifizierte und höchstens noch als deren paradigmatische Verkörperung beziehungsweise parallele Darbietung gelten gelassene Frau offenbar eine radikal gewandelte Rolle und Aufgabe übernimmt, so zeigt sich um nichts weniger radikal auch die in Werther Gestalt werdende männliche Person und Perspektive verändert. Einerseits darf der Mann wieder er selbst sein, das bürgerliche Individuum, das er ist, verkörpern. Weil motivationaler Grund seines Handelns nicht mehr das Bedürfnis nach Herstellung einer privativ-externen Geschlechtsbeziehung, sondern nurmehr das Verlangen nach einem Wechsel der persönlich-internen Geschlechterrolle ist, sieht sich die gesellschaftliche Zensur, deren Widerstand verpönten Vergesellschaftungsformen gilt, durch diese auf das Innenleben der Person beschränkte und von vornherein zur privaten Emotion entschärfte Motion, die nach außen, sprich, gegenüber dem anderen Geschlecht, die Contenance einer im Blickkontakt oder in der flüchtigen Handberührung sich erschöpfenden reinen Parallelität oder bloßen Korrespondenz wahrt, nicht herausgefordert und erlaubt es dem Helden, in eigener bürgerlicher Person zu operieren, statt sich hinter der Maske des lasziven Aristokraten verstecken zu müssen.

Aber andererseits kommt, was Werther anstrebt, einer radikalen Absage an den ihm von der bürgerlichen Gesellschaft zugewiesenen männlichen Part und einem Konkurs seiner an diesen männlichen Part geknüpften Existenz als bürgerliches Individuum gleich. So gewiß Werther zur seelenvollen Empfindsamkeit der weiblichen Geschlechterrolle zu konvertieren entschlossen ist, so gewiß er in die narzißtische Autarkie dieser Rolle seine ganze Hoffnung und seine neue Identität setzt und so gewiß aber diese narzißtische Autarkie gebunden ist an einen bestimmten sozialen Topos, den Topos nämlich der von der Sphäre der gesellschaftlichen Arbeit und Öffentlichkeit ausgeschlossenen, privatisierenden Frau, die sich gegen die Gefahr, als reine, aller Gesellschaftlichkeit entzogene Privatangelegenheit des Mannes, als sein Anhängsel und Accessoire, zu enden, durch eben diese narzißtische Autarkie schützt – so gewiß ist die Werthersche Konversionsbereitschaft gleichbedeutend mit einem Votum gegen die gesellschaftliche Topologie und den Ort, der ihm als Mann darin zugewiesen ist, bedeutet sie mit anderen Worten, daß er die bürgerliche Perspektive für seine Person abdankt, aus dem bürgerlichen Gewerbsleben ausscheiden, sich aus der bürgerlichen Öffentlichkeit verabschieden will.

Nach dem Vorbild der in narzißtischer Autarkie befangenen weiblich schönen Seele um die privatisierende Versenkung ins eigene seelenvolle Innenleben, um die totalisierende Entfaltung eines von quasisexueller Empfindsamkeit überströmenden Verhältnisses zur eigenen Natur und deren in Wald und Flur erscheinendem äußerem Spiegel bemüht, hört in Gestalt von Werther der bürgerliche Mann auf, die Geschlechtsbeziehung als eine zum bürgerlichen Arbeitsleben ebenso komplementäre, wie zum bürgerlichen Familienleben alternative Entfaltungsmöglichkeit, eine mit der Berufstätigkeit ebensosehr vereinbare wie mit dem Ehestand inkompatible Freizeitgestaltung ins Auge zu fassen, und nimmt sie statt dessen als eine zum Komplementärverhältnis aus Arbeits- und Familienleben insgesamt alternative Option, eine das System aus Zivilberuf und Zivilstand als ganzes verwerfende Fluchtperspektive wahr. Mit anderen Worten, die Geschlechtsbeziehung, die dem bürgerlichen Mann ursprünglich dazu diente, den Ausbruch aus einem als Gegenstück zum öffentlichen Dasein angelegten und mittels Ehe und Familie gesellschaftlich ebensosehr organisierten wie kontrollierten Privatleben zu proben, dient ihm nun, da der Ausbruchsversuch in der narzißtischen Autarkie der weiblich schönen Seele sein ebenso unangreifbares wie unbeabsichtigtes Ergebnis gefunden hat, kraft der Identifikation mit diesem Ergebnis zum Ausstieg aus der ganzen, zwischen öffentlichem Dasein und Privatleben gespaltenen bürgerlichen Existenz und Einstieg in eine mittels regelrechtem Geschlechterrollenwechsel avisierte exklusiv andere Lebensform.

Wie ausschließend und absolut alternativ zur bürgerlich geteilten empirischen Lebensweise die von Werther per Konversion zur weiblichen Geschlechterrolle angestrebte idealische Lebensform tatsächlich ist, wird in dem Augenblick deutlich und krisenhaft virulent, wo ihm ein wirkliches weibliches Wesen, eine Jungfrau aus Leib nicht weniger als aus Seele, Lotte, in die Quere kommt und gleichermaßen als paradigmatische Wahlverwandte seine Lust zur Konversion entzündet, wie als prospektive Ehegattin ihn zur Ordnung der bloßen Übergangs- oder Initiationsbedeutung ihres empfindsamkeitskultlichen Treibens ruft. Während sie ihn mit ihrem seelenvollen Wesen ansteckt und in die als Parallelaktion wohlverstandene Intimität eines ebenso narzißtisch selbstgenügsamen wie wahlverwandtschaftlich einverständigen Lebens jenseits der Zwänge und Pflichten des bürgerlichen Daseins entrückt, führt sie ihm gleichzeitig im Verlobten Albert sein bürgerliches Vexierbild vor, das, was er nach ihrem Dafürhalten und Wollen werden müßte, um Anspruch auf eine dauerhafte Beziehung zu ihr erheben zu können, und macht ihm damit klar, daß ihr Sinnen und Trachten nicht auf eine wahlverwandtschaftliche Verbindung der Seelen zwecks Kultivierung eines parallelen Narzißmus, sondern durch diese als propädeutisches Zwischenstadium wohlverstandene Seelenverbindung hindurch auf eine eheliche Vereinigung der Leiber zwecks Gründung einer gemeinsamen Familie geht. Während sie ihm mit ihrem paradigmatisch seelenvollen Verhalten, ihrer narzißtischen Lebensform, einen Ausweg aus dem verhaßten bürgerlichen Dasein weist, stellt sie ihm gleichzeitig in der Gestalt des Gegenspielers Albert, der ja in Wahrheit nur sein bürgerlicher Doppelgänger ist, vor Augen, daß der vermeintliche Ausweg nur ein der Erziehung der Sinne und der Zähmung der Leidenschaften dienlicher Umweg zurück ins bürgerliche Dasein ist. Diese Wahrheit bringt Werther um; ehe er dem Fingerzeig seines Vorbildes Lotte folgt und Albert wird, ehe er also seinen ihr abgeschauten Narzißmus sich ausgerechnet von ihr verschlagen läßt, legt er lieber Hand an sich und geht gemeinsam mit seinem Narzißmus unter.

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