4. Streiter wider die Tugend: Don Giovanni und der Marquis de Sade

Beide Geschlechter also gewinnen durch den Kult der Empfindsamkeit – die Frau allerdings mehr als der Mann. Ihr bietet der Kult eine in seelischer Emotion bestehende Ersatzbefriedigung für die unterdrückte sexuelle Motion und gewährt ihr gleichzeitig Schutz gegen den Verlust an bürgerlicher Identität und personaler Integrität, mit dem unter den gegebenen geschlechtsspezifischen Kompetenz- und Machtverhältnissen das Ausleben der sexuellen Motion sie bedroht. Der Mann hingegen gewinnt neben der eher voyeuristisch gefärbten Ersatzbefriedigung, die auch er aus dem Überdauern der sexuellen Motion in actu der sie verdrängenden seelischen Emotion zieht, nur die Genugtuung, im Einklang mit den gesellschaftlichen Normen, Verhaltensforderungen und Lebensstrategien zu bleiben, die für ihn als bürgerliches Individuum, als Person, verpflichtenden Charakter beanspruchen; was ursprünglich seine Phantasietätigkeit beflügelte, die Aussicht nämlich auf eine unabhängig von seiner bürgerlichen Existenz und parallel zu ihr mögliche Entfaltung des Geschlechterverhältnisses zur rein sexuellen Beziehung – diese Aussicht muß er dem Kult der Empfindsamkeit opfern.

Weil er im Unterschied zu der auf die Privatsphäre beschränkten Frau von der Privatheit und Intimität einer jenseits der Gesellschaft als soziales Verhältnis sui generis gepflegten Geschlechtsbeziehung nicht die Demontage seiner bürgerlichen Identität und persönlichen Integrität gewärtigen muß, sondern sich im Gegenteil eine Bereicherung seiner bürgerlichen Existenz und ihre Ergänzung durch ein im Sinne lustvoller Zweisamkeit erfülltes Privatleben erhofft, muß er das von der Gottheit des Kults der Empfindsamkeit, der weiblichen Tugend, geforderte Opfer jener ins phantasierende Auge gefaßten sexuellen Beziehung einerseits zwar als der eigenen Identität gemäßen heroischen Verzicht, andererseits aber auch als dem eigenen Trieb widerfahrenden herben Verlust empfinden. Kein Wunder, daß sich die männliche Phantasie diesem Opfer hie und da widersetzt und nicht nur in der verquast poronographischen Form der symptomatischen Entgleisungen Richardsons, sondern mehr noch in der unverblümt sexuellen Bedeutung eines sakrilegischen Aufbegehrens gegen den Empfindsamkeitskult ihr Interesse zu wahren sucht.

Zwei Zeugnisse für dieses kultfeindliche Aufbegehren ragen gleichermaßen durch den paradigmatischen Charakter des Verfahrens und durch die exemplarische Natur des Scheiterns hervor. Während bei Don Giovanni das gegen den Fetisch des Kults, die Gottheit selbst, die Tugend, gerichtete Aufbegehren indirekt und mit List verfährt, geht es beim Marquis de Sade direkt und gewalttätig vor. Und während es bei Don Giovanni in der Selbstzerstörung des Aufbegehrenden resultiert, läuft es beim Marquis auf die Zerstörung des sexuellen Objekts hinaus.

Mit List und Tücke sucht Don Giovanni der Tugend beizukommen, sucht er sich an dem unüberwindlichen Hindernis, das sie darstellt, quasi vorbeizumogeln: Er stellt den Adressatinnen seiner geschlechtsperspektivischen Avancen in die unmittelbare Aussicht, was ihre funktionalistisch verstandene Tugend ihnen am Ende eintragen soll, nämlich die Ehe, und bringt damit die Betrogenen dazu, die Bastion, hinter deren sicheren Mauern sie das Eintreffen des Bräutigams erwarten sollen, zugunsten eines Strauchdiebs und Wegelagerers vorzeitig zu räumen, im Angesicht des sicheren Hafens ihr Schifflein von einem als Lotse maskierten Kaper entern zu lassen. Er setzt den in der Tugend kodifizierten gesellschaftlichen Widerstand gegen eine als Privatsache frei entfaltete sexuelle Beziehung dadurch außer Kraft, daß er den Frauen das Ziel, dessen unbeirrte Verfolgung ihr Widerstand gewährleisten soll, als bereits so gut wie erreicht und mit Händen zu greifen vorgaukelt und sie damit verführt, den Widerstand vorzeitig aufzugeben.

Soweit er ihnen suggerieren kann, daß sie, um das mit Händen zu greifende Ziel des Ehehafens zu erreichen, ihm vorweg ihre sexuelle Gunst schenken, seinem Verlangen zum Beweis sei's ihres guten Willens, sei's ihrer Ehetauglichkeit Befriedigung verschaffen müssen, und soweit es ihm also gelingt, ihnen den Zusammenhang zwischen sexuellem Verkehr und ehelicher Verbindung nicht bloß als chronologische Koinzidenz, sondern mehr noch als kausallogischen Nexus plausibel zu machen, feiert der Verführer in der Tat einen Triumph über die Tugend: Er bringt die Frauen dazu, die Geschlechtsbeziehung mit ihrer privativen Zweisamkeit und asozialen Lust als substantielle Basis der Ehe anzunehmen und anzuerkennen und läßt sie damit die entscheidende Botschaft der Gottheit Tugend vergessen – daß nämlich Sexualität als solche in der Ehe keine Rolle spielen darf und einzig und allein in dienender Funktion, als Moment der Fortpflanzung, dort etwas zu suchen hat, weil das Geschlechtliche als solches, als eigenständige quasisoziale Entfaltungsperspektive und Lebensform, unter der Bedingung der zwischen den Geschlechtern herrschenden Kompetenz- und Machtverteilung die Frauen zwangsläufig in ihrer bürgerlichen Identität und personalen Integrität bedrohen muß. Allzu begierig, das ihnen gesellschaftlich gesteckte Ziel, den Ehehafen, zu erreichen, lassen sich die Frauen von der männlichen Phantasie aufs Glatteis führen und geben der Verlockung der sexuellen Perspektive insofern statt, als sie zwischen geschlechtlicher und ehelicher Beziehung eine konstruktive Korrespondenz gelten lassen.

Allerdings bleibt dieser Triumph, den die männliche Phantasie über die weibliche Wachsamkeit erringt, ein Pyrrhussieg, da die geschlechtliche Beziehung für die Frauen unlösbar an die eheliche Bindung geknüpft bleibt und da die Frauen, sobald sie mitbekommen, daß sie mit dem Eheversprechen nur geködert und hinters Licht geführt wurden, das Interesse an der sexuellen Beziehung schlagartig verlieren und nurmehr darum bemüht sind, ihre Ehre zu retten oder, falls diese irreparabel hin ist, zumindest kein Leben in Unehren fortzusetzen. Selbst wenn die Frauen, von der männlichen Phantasie verführt, die Idee der Tugend, sprich, den systematischen Sinn für die Unvereinbarkeit der ehelichen Institution mit einer zweckhafte Eigenständigkeit beanspruchenden Geschlechtsbeziehung, aus dem Auge verlieren, bleibt ihnen immer noch das Prinzip der Ehre, sprich, das empirische Bewußtsein, daß eine Geschlechtsbeziehung ohne den Rahmen der ehelichen Institution den Verlust der bürgerlichen Identität und persönlichen Integrität bedeutet; und auch wenn das Ehrgefühl sie vielleicht nicht vor dem Fehltritt bewahrt, sie nicht davor schützt, vorzeitig zu gewähren, was allererst durch den ehelichen Vertrag, dessen Abschluß sie sich davon versprechen, sanktioniert wäre, es sagt ihnen jedenfalls, was sie nach dem Fehltritt zu tun haben, sagt ihnen, daß sie ihn schleunigst durch den Eheschluß wiedergutmachen oder andernfalls auf jede geschlechtliche Beziehung verzichten und sich einem Leben in reuevoller Enthaltsamkeit weihen müssen.

Tertium non datur – denn dies Tertium wäre eben die von sozialen Rücksichten entbundene und zu zweckhafter Eigenständigkeit erhobene sexuelle Perspektive, auf die der Mann mit seiner Überlistungstaktik eigentlich zielt und die doch unter den gegebenen Umständen nur in der unfreien Form einer zur bürgerlichen Ehe und Anständigkeit komplementären und ihr mit Ventilfunktion zuarbeitenden Schatteneinrichtung vorstellbar ist. Wenn schon nicht die Tugend, das systematisch-innere Gefühl für das Unding einer in der Ehe eingelösten Geschlechtsbeziehung, jede freie sexuelle Betätigung und Entfaltung kategorisch ausschließt, so jedenfalls doch die Ehre, das empirisch-äußere Bewußtsein von der Unstatthaftigkeit einer von der Ehe abgelösten Geschlechtsbeziehung. Deshalb bleibt das Ausgeschlossene höchstens und nur in der fehlleistungshaften Form einer kursorischen Ausbruchs- und dynamischen Ventilfunktion, eines von der Gesellschaft ebensosehr diskreditierten wie tolerierten, ebensosehr totgeschwiegenen wie stillschweigend gutgesagten Heimlichkeit möglich. Will die Frau dieses sich selber die Lügen seiner verstohlen-inoffiziellen Existenz strafende Tertium nicht in Kauf nehmen, will sie sich mit anderen Worten nicht aus der Gesellschaft ausschließen und sich, wenn schon nicht zum Spielball der Triebbefriedigung eines einzelnen Mannes, so ganz gewiß aber zur Manövriermasse der Triebökonomie einer männerdominierten Gesellschaft degradiert finden, so muß sie ihren Fehltritt entweder durch die Ehe sühnen oder durch Enthaltsamkeit büßen.

Damit aber erfährt sich nun der Betrüger als Betrogener, stellt der Verführer fest, daß er sich ebensowohl selbst genasführt hat. Kontinuität, realen Bestand, kann die Geschlechtsbeziehung, die er sich durch das Eheversprechen erschleicht, nur erlangen, wenn er sein Versprechen einlöst und also die Geschlechtsbeziehung in jene Form überführt, die ihr als solcher den Garaus macht. Lehnt er das ab, will er an der Geschlechtsbeziehung in der intendierten Form eines der gesellschaftlichen Kontrolle entzogenen sexuellen Entfaltungsraums, eines privaten Erfüllungsversprechens, sprich, an einem nicht in die Pflicht des Familienlebens genommenen und auf dessen Altar geopferten Geschlechtsleben festhalten, so muß er das jeweilige Beziehungsprojekt für gescheitert erkennen, muß sich den Eheforderungen der getäuschten Frau und eventuell damit verknüpften gesellschaftlichen Sanktionen entziehen und muß schleunig das Weite suchen, um sein Glück anderweitig zu probieren.

Daß er als der gebrandmarkte sexuelle Glücksritter seinem Glück immer neu und an immer anderen Orten ohne die mindeste Aussicht auf schließliches Gelingen nachjagen muß – eben dies ist der biographische Fluch, womit den Verführer sein Festhalten an einer von der Herrschaft der Tugend befreiten Geschlechtsperspektive schlägt. Weil er den von der gesellschaftlichen Form der Ehe befreiten sexuellen Inhalt anstrebt, den die als Moment seiner Privatsphäre erscheinende Frau der männlichen Phantasie verheißt, diesen Inhalt aber nur erlangen kann, wenn er sich zum Schein verpflichtet, eben die gesellschaftliche Form zu wahren, von der er den Inhalt doch gerade emanzipiert sehen möchte, gerät sein Streben zu einer Parforcejagd durch verbotene Betten, deren jedes ihn auch schon wieder ausspeit, kaum daß er sich darin niedergelassen hat. Das Schicksal des betrogenen Betrügers ist, sich auf der Jagd nach einem Gut zu verzehren, das er kursorisch nur zu genießen vermag, wenn er bereit ist, es systematisch zu verspielen – mit allen in der Reduktion des empirischen Individuums auf den hermetischen Phallos, die Grabstele des Komtur, symbolisierten Selbstzerstörungskonsequenzen, die ein solches ad infinitum prolongiertes Sichverzehren notwendig hat.

Direkter und gewalttätiger als Don Giovanni, der dem Fetisch Tugend ein Schnippchen zu schlagen sucht und der dabei auch und nicht zuletzt sich selbst überlistet, geht der Marquis de Sade gegen den verhaßten Götzen vor. Er macht sich zunutze, daß der gesellschaftliche Widerstand gegen die Perspektive einer asozial in der Privatsphäre bleibenden geschlechtlichen Entfaltung in seiner Kodifizierung als Tugend den Rahmen der Geschlechtsperspektive wahrt, gegen die er sich richtet, und als ein im Anthropologischen angesiedelter, im Gattungsfundament verankerter, ein dem Geschlechtstrieb mit dessen eigenen Waffen in die Parade fahrender regelrechter Gegentrieb sich behauptet. Diesem angeblichen Naturphänomen und Gattungsmerkmal Tugend verweigert der Marquis den Glauben, mit ihm macht er als mit einem Hirngespinst, einer Schimäre, kurzen Prozeß, über es setzt er sich als über eine unschwer, wenngleich wortreich, eine offenkundig, wenngleich weitschweifig widerlegbare Lebenslüge und Fehlorientierung hinweg. Im wie immer redseligen und argumentationsfreudigen Gewaltstreich befreit von jener als Tugend apostrophierten Hemmschwelle und Barriere, die er beim Wort ihrer angeblichen Unvermitteltheit und Naturhaftigkeit nimmt und die er eben in diesem ihrem Anspruch leichtes Spiel hat, als eine ebenso künstliche wie ungegründete Attitüde zu diskreditieren, kann er sich nun den nackten Tatsachen zuwenden, kann er das, was durch die Attitüde verhindert wird, nämlich eine ungehemmt sexuelle Betätigung und freie Entfaltung des im Körper angelegten Potentials an Geschlechtslust, in Angriff nehmen.

Indes, daß hier von Angriff die Rede ist, kommt ebensowenig von ungefähr, wie die Weitschweifigkeit der in Tugendkritik bestehenden argumentativen Vorbereitung auf die sexuellen Aktivitäten zufällig ist. Wie sich zeigt, ist der Genuß geschlechtlicher Lust untrennbar verknüpft mit gewalttätigsten Manipulationen des Geschlechtspartners und gravierendsten Eingriffen in seine physische und funktionelle Integrität und reduziert sich in der Tat die sexuelle Beziehung auf eine einzige große sadomasochistische Zerstörungsorgie. Was sich schon in der wortreichen Abfertigung der bloßen Schimäre, zu der die Tugend erklärt wird, symptomatisch andeutet, das wird im angeblich von der Rücksicht auf die Tugend befreiten sexuellen Umgang, der hiernach Platz greift, exemplarisch deutlich: die Vertreibung der Schimäre bleibt selber schimärisch, das pro forma des Tugendbegriffs aus dem Felde geschlagene Gespenst des gesellschaftlichen Widerstands gegen den ungehemmten sexuellen Gebrauch der Körper kehrt in der ganzen Leibhaftigkeit eben dieser zum sexuellen Gebrauche freigegebenen Körper wieder. Weit entfernt davon, daß diese Körper einfach nur Leiber, materielle Organismen wären, sind sie befrachtet mit gesellschaftlicher Bedeutung, Chiffren gesellschaftlicher Abhängigkeiten und Verpflichtungen. Sie sind Mütter und Väter von Kindern, Kinder von Eltern, Verlobte und Ehepartner, Jungfrauen und Damen von Stand, Lakaien und Minister, und es ist diese ihre gesellschaftliche Bestimmtheit, die den Marquis in Gestalt der an seiner Statt handelnden Romanfiguren fasziniert und sein Verhältnis zu den Partnern oder vielmehr Opfern seiner von der Tugendrücksicht befreiten sexuellen Aktivität prägt, die Art und Weise determiniert, wie er mit ihnen in ihrer nackten Leiblichkeit umspringt.

Nicht Lustgewinn aus diesen Leibern zu ziehen, mit ihnen das ganze sexuelle Repertoire durchzuspielen, an ihnen das gesamte polymorph-perverse Potential zu entfalten, ist der eigentliche Bestimmungsgrund des Marquis, das wahre Telos seines geschlechtlichen Handelns, sondern ihnen die noch ihrer nacktesten Leiblichkeit eingefleischte gesellschaftliche Rücksicht stricto sensu auszutreiben, ihnen jede Bindung und Verbindlichkeit, die sie davon abhält, Sexualwesen und nichts weiter zu sein, im Wortsinne zu verschlagen. Nicht weil sie der Physis auf den Grund gehen, die organische Materie bis ins Innerste erleben wollen, sondern weil sie sogar noch die unmittelbarste Physis im Verdacht haben, Zufluchtsstätte gesellschaftlicher Metaphysik zu sein, weil sie selbst noch dem leibhaftigsten Organismus moralische Implikationen unterstellen, quälen die sadistisch-masochistischen Schergen des Marquis ihre Opfer bis aufs Blut, dringen an allen möglichen und unmöglichen Stellen peinvoll in sie ein, durchforschen ihre Leiber bis in die letzten Winkel und Fältelungen mutmaßlicher Motive, studieren ihre Lusterregungen und Schmerzreaktionen bis ins äußerste Extrem des agonalen Kollapses oder der verlöschenden Empfindung und lassen schließlich die solcherart sondierten und sezierten, auskultierten und analysierten Opfer zum Experimentierfeld und Schauplatz der erfolgreichen Reduktion des Moralischen aufs Organische, des Wirklichen aufs Leibliche, kurz, zu Kronzeugen des Triumphs der Triebhaftigkeit über die Sittlichkeit, des Sinnlichen über das Gesellschaftliche werden: Väter mißbrauchen ihre Töchter, Männer lassen ihre Frauen schänden, Verlobte peitschen sich gegenseitig aus, Damen von Stand prostituieren sich, Priester und Nonnen treiben mit Novizen Unzucht, Lakaien sodomisieren ihre Herren.

Aber kein Triumph des Sexus über das Ethos, der haltbar oder auch nur als solcher glaubhaft wäre; in ewiger Abfolge, im wahnsinnigen Galopp durch Boudoirs, durch herrschaftliche Schreckenskabinette, durch klösterliche Folterkammern, muß die Probe aufs Exempel des von der Tugend befreiten Geschlechts, des von gesellschaftlichen Schranken entbundenen Leibes gemacht, müssen Hekatomben junger Frauen und Männer, Legionen von Bediensteten, Scharen lüsterner Greise und Matronen aufgefahren und an den einschlägigen Körperteilen ebenso manisch-schematisch wie hochnotpeinlich erforscht und in actu beziehungsweise im Resultat ihrer qualvollen Auskultation befriedigt werden. Und mag die Zahl der als Kronzeugen des Triumphs von Sexualität und Sinneslust über Tugend und Moral bemühten Leiber noch so groß sein, mag das Zeugnis, das sie für diesen Triumph ablegen, noch so seriell erdrückend sein – sowohl der quantitative Aspekt, nämlich der Wiederholungszwang und die zu den merkwürdigsten Gruppensexkonstruktionen ausufernde Serialität, der die sexuelle Befriedigung unterliegt, als auch das qualitative Moment, nämlich die von Folter- und Vivisektionsgelüsten heimgesuchte zudringlich-chirurgische oder eindringlich-sadistische Haltung ständigen Sondierens und Kontrollierens, an die sich die Befriedigung untrennbar geknüpft zeigt, lassen deutlich werden, daß der lauthals erklärte Glaube des Marquis an den Sieg des sinnlichen Genusses über die gesellschaftliche Moral oder der Naturmacht Geschlechtslust über die kulturelle Schimäre Tugend seinerseits eine Schimäre bleibt, weil er nichts weiter ist als ein verzweifelter Selbstüberredungsversuch, ein wider besseres Wissen proklamiertes irriges Dogma, ein Löcken wider den Stachel der gegenteiligen, stillschweigenden Überzeugung von der Unausrottbarkeit der den Leibern eingefleischten gesellschaftlichen Rücksicht, von der hoffnungslosen Abhängigkeit der Sexualität von sozialen Bindungen und moralischen Normen.

Ein wie immer auch in der persönlichen Disposition des Marquis, seiner geschlechtlichen Neigung, angelegtes Sinnbild dieser heimlichen Gewißheit ist die anale Ausrichtung der geschlechtlichen Praktiken, ist die sie beherrschende und organisierende Tendenz, dem der Tugendrücksicht entrissenen Lustobjekt Leib von hinten beizukommen. Weil der Marquis und seine romanhaften Sachwalter der Fassade des zur reinen Lustmaterie erklärten Leibes, den sie genießen wollen, nicht trauen, dem Sinnenschein, in dem er sich ihnen darbietet, keinen Glauben schenken, sind sie ständig und zwanghaft bemüht, hinter die Sache zu kommen, dorthin vorzustoßen, wo sie sich dem unmittelbaren Blick entzieht, in die Region vorzudringen, die gegenüber der vordergründigen Fläche als hintergründige Tiefe, gegenüber dem äußeren Vorgeben als innere Faktizität firmiert. Nicht das Sinnesobjekt Leib, sondern das, was sich hinter oder vielmehr in ihm verbirgt, nicht der phänomenale Schein, sondern die anale Wirklichkeit, nicht die materiale Hülle, sondern der residuale Unrat ist der Punkt der Fixierung, das Faszinosum, dem sie erliegen und das sie zwingt, dem Leib mit Geißel und Godemiché, mit Dornen und Zangen zu Leibe zu rücken.

Die insgeheim fixe Überzeugung von der unausrottbaren, weil im Wortsinne eingefleischten Gesellschaftsverfallenheit und moralischen Bestimmtheit des Leibes trennt aber nur noch ein winziger Schritt vom Bedürfnis, diese moralische Bestimmtheit zum expliziten Moment der Lusterfahrung zu erheben und als konstitutiven Bestandteil in den Genuß des Leibes einzubeziehen. So wahr die Verfolgung und Ausmerzung der noch in der nacktesten Leiblichkeit verborgenen gesellschaftlichen Bezüge und moralischen Rücksichten das dirigierende Interesse des Umgangs mit dem Leib ist und sämtliche am Leib exekutierten Befriedigungsformen von diesem Interesse diktiert und das heißt, von der sadomasochistisch-vivisektorischen Suche nach dem Verborgenen geprägt sind, so wahr liegt es nahe, in quasi positiver Wendung die Befriedigung als solche geradezu davon abhängig zu machen, daß es gelingt, das Verborgene sichtbarlich erscheinen, das Verpönte zur Vorführung kommen und erkennbare Präsenz gewinnen zu lassen, um es dann in aller Form und Ausführlichkeit zu exorzisieren und aus dem Felde zu schlagen, aufs Korn zu nehmen und der Vernichtung zu überantworten. Damit verschiebt sich nun aber vollends der Schwerpunkt vom an sich Intendierten, dem Genuß des Leibes, zum in Wirklichkeit Faszinierenden, zur Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Rücksicht, die den Leib mit Beschlag belegt und dem Genuß vorenthält. Das, was eigentlich nur Vorbereitung auf die ungehinderte Entfaltung der Sinneslust und die Bedingung ihrer Möglichkeit sein soll, wird ins Zentrum dieser Lustentfaltung gerückt und als Bedingung der Wirklichkeit aller Lusterfahrung zur Hauptsache des ganzen Geschehens erhoben.

Praktischer Ausdruck dieser nachhaltigen Akzentverschiebung ist, daß fortan keine Lustempfindung mehr auftritt, kein Orgasmus mehr statthat, keine Befriedigung mehr eintritt, wenn nicht bei den Opfern eklatant elterliche Gefühle verletzt, kindliche Pietät mit Füßen getreten, geschwisterliche Schamgrenzen überschritten, partnerschaftliche Solidarität aufgekündigt, sozialen Anstandsformen Hohn gesprochen wird. Und ideologische Konsequenz der Akzentverschiebung ist, daß diejenigen, die ihre Sexualität in solchen an den Gegner, die gesellschaftliche Rücksicht, fixierten, vom Widerpart, der nackt-leibhaftigen Tugend, faszinierten, sadistisch-aggressiven Formen entfalten, sich selbst in geradezu Heiterkeit erregender Weise am Gegner messen und nach dessen Maßgabe sehen und beschreiben, sich also ständig als der Tugend entratende Missetäter, als lasterhafte, gegen die heiligsten Gebote der Menschheit frevelhaft verstoßende Ungeheuer, als geschlechtstolle Monstren mit ebensoviel innerer Überzeugung wie heimlichem Stolz präsentieren. Die nackte Fleischlichkeit ihrer Opfer auskultierend, malträtierend, penetrierend, machen die Sadisten im Dienste einer von der gesellschaftlichen Rücksicht befreiten Geschlechtlichkeit deutlich, daß es ihnen in Wahrheit nur um die dem nackten Leib eingefleischte Gesellschaftlichkeit geht, daß die Tugend, der sie in Haßliebe verbunden sind, das einzige ist, was sie libidinös engagiert, sexuell erregt.

Es liegt in der Logik dieser das erklärte Ziel, den Genuß des von der gesellschaftlichen Rücksicht befreiten Leibes, nur im Angesicht und unter den Augen der gesellschaftlichen Rücksicht selbst erreichenden Perversion, dieser Verkehrung der Lust am Leib in die Lust an dem, was die Lust am Leib hintertreibt, dieser Rebellion, die als Voraussetzung für ihr Gelingen die Gegenwart und den Anblick dessen braucht, was ihr Gelingen vielmehr vereitelt – es liegt also in der Logik dieser von der objektiven Stärke des gesellschaftlichen Widerstands und seiner triebförmigen Repräsentantin, der Tugend, zeugenden und alle Züge einer veritablen Geistesverwirrung tragenden Fehlorientierung, daß die schließliche Abrechnung mit der als Stachel im Fleische erscheinenden gesellschaftlichen Macht nicht diese selbst trifft, sondern das, worin sie erscheint, den nackten Leib, der als dies von gesellschaftlicher Bedeutung erfüllte Gefäß geschunden, zerstückelt, zerstört wird. Was der Marquis von der gesellschaftlichen Rücksicht befreien will, um ungestört daran seine Sexualität zu entfalten, das wird am Ende stellvertretend für die in ihm Gestalt gewordene gesellschaftliche Rücksicht zur Strecke gebracht; in keiner anderen Form können die phantasierten Repräsentanten des Marquis den Leib genießen und ihre Lust an ihm befriedigen als in der vernichtend kursorischen Form der als leibhaftige Vernichtungsaktion zelebrierten Befreiung von ihm.

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