15. Resümee

Die zu Beginn der bürgerlichen Entwicklung erzeugte Suggestion einer durch die Auflösung des traditionellen Zusammenhanges von Arbeitsplatz und Familie zwischen den Geschlechtern hergestellten neuen sexuellen Zweisamkeit und Sozialbeziehung sui generis erweist sich so am Ende als abgründiges Blendwerk. Täuschung ist sie von Anfang an. In der Realität der frühbürgerlichen Gesellschaft dient jene qua bürgerliche Familie als außergesellschaftlicher Freiraum sich suggerierende Privatspäre der Geschlechter dazu, die biologische Reproduktion und kulturelle Regeneration der Gesellschaft ebenso kostengünstig wie fruchtbringend abzuwickeln und damit die für die ökonomische Reproduktion der Gesellschaft auf neuer, kapitalistischer Grundlage günstigsten produktionfaktorellen Voraussetzungen und dynamischsten Entwicklungsbedingungen zu schaffen. Mit dieser der Suggestion von libidinösem Freiraum und sexueller Entfaltungsmöglichkeit stracks widerstreitenden gesellschaftlichen Realität bemüht sich die bürgerliche Literatur des 18. Jahrhunderts, die durch die Suggestion angestachelte Phantasie zu vermitteln und in sozialverträglichen Einklang zu bringen; Resultat und Ausdruck des Vermittlungsversuchs ist der Kult der Empfindsamkeit. Als dann im 19. Jahrhundert das dank der kapitalistischen Entwicklung zu Wohlstand gekommene, aber gleichzeitig um der weiteren kapitalistischen Entwicklung willen politisch entmachtete Bürgertum eine familiäre Privatsphäre kreiert, die mittels Kult des Schönen das Modell einer alternativen Gemeinschaft und utopischen Humanität zelebriert, ist es abermals die Literatur, die – wie auch immer erfolglos! – diese neue Realität mit der als familiäre Obsession andauernden Phantasie von sexueller Erfüllung zu versöhnen trachtet.

Unterdes hat im 20. Jahrhundert die bürgerliche Gesellschaft einen politisch-ökonomischen Zustand erreicht, in dem einerseits das kapitalistische Bedürfnis nach einer massenhaft-extensiven Ausbeutung von Arbeitskräften dem Streben des Kapitals nach der Ausnutzung einer mit technischen Mitteln intensivierten Arbeitsleistung gewichen ist und andererseits die Frauen durch Integration in den kapitalistischen Produktionsprozeß den Männern im Prinzip gleichgestellt und beide Geschlechter von der Mitwirkung an der gesellschaftlichen Arbeit und der auf ihr aufbauenden gesellschaftlichen Öffentlichkeit okkupiert und im gemeinsamen Interesse an beidem vereint sind. Damit haben sich nun aber die von der bürgerlichen Familie traditionell wahrgenommenen Realfunktionen der biologischen Reproduktion und Kinderaufzucht einerseits und der als quasipolitischer Protest gefaßten Kultivierung eines zur gesellschaftlichen Arbeit und Öffentlichkeit alternativen Selbstverwirklichungs- und Gemeinschaftsbildungsmodells andererseits wenn nicht erledigt, so doch jedenfalls von der Rolle maßgeblicher Aspekte verabschiedet; die bürgerliche Familie scheint tendenziell reduziert auf die Zweisamkeit jener zwischen den Geschlechtern privatsphärisch herrschenden Sozialbeziehung sui generis und scheint mangels sonstiger gesellschaftlicher Rücksichten und Aufgaben disponiert, das zu Anfang der bürgerlichen Entwicklung bloß aufleuchtende Versprechen eines libidinösen Freiraumes, in dem sexuelle Entfaltung und Erfüllung möglich wird, endlich einzulösen.

Indes, auch diesmal ist der Schein bloßer Widerschein einer gesellschaftlichen Realität, die sich der bürgerlichen Familie bemächtigt und sie mitsamt ihrem sexuellen Versprechen erbarumungslos funktionalisiert: der neuen Realität nämlich des Massenkonsums, den die spätbürgerliche Gesellschaft organisieren und ins Werk setzen muß, will sie verhindern, daß sich die kapitalistische Produktionsweise durch ihre schiere Produktivität das Grab schaufelt und die Wertschöpfung der für sie immer wieder konstitutiven Wertrealisierung davonläuft und an ihren unrealisierten eigenen Werten erstickt. Die Konsumrücksicht ist es, der die als gesellschaftliche Institution eigentlich überflüssig gewordene bürgerliche Familie ihren Fortbestand verdankt, die mit anderen Worten dafür sorgt, daß die auf eine funktionslose Zweisamkeit, auf die Geschlechtsbeziehung als solche, reduzierte Familie überhaupt die Stellung einer gesellschaftlichen Institution behält. Und die Konsumrücksicht ist es, die diese von ihren Gnaden und zu ihren Diensten kontinuierte Einrichtung zur Gänze durchdringt und die sich im Zentrum der als institutionelle Restfunktion perennierenden Geschlechtsbeziehung einnistet, um diese ebensosehr nach ihrem Bilde wie in ihrem Sinne umzuformen.

Als ubiquitär eingesetztes Konsummotiv und Warenabsatzstrategem aber sieht sich die Geschlechtsbeziehung in ihrem Beziehungscharakter negiert und aufgehoben: Durch ihre primär als Stimulation zum Konsum bestimmte Funktion, ihre ständige Reflexion auf die Waren, erfährt sie eine Brechung, eine Dissoziation, kraft deren die Beteiligten in den Pseudonarzißmus und Quasifetischismus einer mit dem anderen nurmehr symbolischen Umgang pflegenden, nurmehr parallelweltlich-monadisch kommunizierenden Existenz verfallen und von der kein pornographischer Gewaltakt sie zu befreien, geschweige denn zu heilen vermag.

Wie andere, von der kapitalistischen Entwicklung suggestiv emanierende Verheißungen – Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit – wird auch die Perspektive einer von den Zwängen gesellschaftlicher Triebunterdrückung und den Restriktionen der Lebensnot befreiten Liebe, die als auratischer Lichthof der bürgerlichen Familie auftauchende Idee einer ungehinderten Entfaltung der Sexualität, Wirklichkeit nur um den Preis des Offenbarungseids ihrer unrettbar kapitalistischen Verfaßtheit: Wie sich Freiheit als Abstraktion von allen nicht austauschbaren Bindungen und mithin als Weg zum absoluten Atomismus erweist, wie sich Gleichheit als Gleichgültigkeit gegen jede nicht meßbare Eigenschaft und mithin als Triumph eines schrankenlosen Konformismus entpuppt, wie sich Gerechtigkeit als Verwerfung allen nicht teilbaren Besitzes und mithin als Aufforderung zum rücksichtslosen Egoismus herausstellt, so enthüllt sich die nach Maßgabe ihrer Emanzipation von gesellschaftlichen Zwängen erfüllte Sexualität als Abdankung jeder nicht in Warenform objektivierbaren Beziehung, jeden nicht durch die Konsumrücksicht vermittelten Verkehrs, und mithin als Besiegelung einer aus narzißtischer Isolation und fetischistischer Fixierung gewirkten monadischen Existenz.

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