VI.

Dies also ist die wissenschaftliche Wahrheit, die im Namen von Quellenobjektivität und Methodenrationalität der bürgerliche Geist des 19. Jahrhunderts ausbrütet und die er der Intentionalität und Parteilichkeit sozialistischer Geschichte mit dem falschen Pathos eines von Willensregungen und persönlichen Bestrebungen, von Voreingenommenheiten und praktischen Interessen freien Erkennens apotropäisch entgegensetzt. Angesichts einer den bürgerlichen Rahmen zunehmend sprengenden intellektuellen Perspektive, die nicht nur den vom Bürgertum selbst verratenen Universalismus und Chiliasmus frühbürgerlicher Geschichtsphilosophie aufnimmt und fortsetzt, sondern mehr noch kraft solch festgehaltener Zielvorstellung dem bürgerlichen Bewusstsein den Prozess seines Partikularismus und zukunftslosen Zynismus zu machen verspricht, vollzieht der bürgerliche Geist einen radikalen Bruch mit aller interessierten Erkenntnis und intentionalen Vergegenständlichungsarbeit und stiftet den Kult der nur aus einer reliquienhaften Ersatzgegenwart und dem methodischen Umgang mit ihr, nur also aus Quellenempirie und Quellenkritik, zu ermittelnden Sache selbst oder anundfürsichseienden Wirklichkeit, den Kult der ebenso sehr durch Unabhängigkeit vom Erkenntnissubjekt wie durch objektive Endgültigkeit ausgezeichneten Wahrheit. Einzig und allein dieser Wahrheit, die zusammen mit der interessierten Historiographie der eigenen Klasse auch und vor allem die historische Orientierung des sozialistischen Klassengegners als Ideologie zu verwerfen und als falsch Zeugnis in Acht zu tun erlaubt, gilt fortan das Streben des sich eben dadurch als wissenschaftliche Macht etablierenden und mit der Weihe einer, verbindlich für die Gesamtgesellschaft, höchstrichterlich kriteriellen Funktion versehenden Geistes der bürgerlichen Intellektuellen.

Dass solches Pathos einer nur der Wahrheit verpflichteten Intentions- und Interesselosigkeit von Grund auf falsch und zutiefst verlogen ist, diese Einsicht bildet den Ausgangspunkt der Schopenhauerschen Lehre von der durchgängigen Willensbestimmtheit des Geistes und verleiht jener Lehre ihre in bezug auf die Objektivitäts- und Rationalitätsanmaßungen der bürgerlichen Wissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts bleibende kritische Kraft. Schopenhauers Kritik am Geist und an dessen vermeintlicher Fähigkeit zur interesselos szientifischen Erkenntnis der Wahrheit beschränkt sich nicht darauf, die situative Involviertheit und Interessengebundenheit der erkennenden Subjekte als Einwand gegen die Möglichkeit solchen wahren Erkennens vorzutragen und mithin bei grundsätzlicher Anerkennung der Validität des wissenschaftlichen Wahrheitsfindungsprogramms dessen Durchführbarkeit mit Rücksicht auf die psychologisch-praktische Konditionierung der Beteiligten in Abrede zu stellen. Mit seiner Rückführung der Erkenntnis als solcher samt ihrer grundlegenden Kategorien auf den im Leib verkörperten Willen macht Schopenhauer vielmehr deutlich, dass seine Bestreitung eines dem Geist gegebenen Vermögens zu unabhängiger Objektivität und selbstbestimmter Rationalität des Erkennens keine bloß psychologische, auf die empirischen Konditionen des Erkenntnissubjekts zielende, sondern eine durchaus epistemologische, die systematische Konstitution des Erkenntnisprozesses selbst betreffende Kritik ist.

Wenn Schopenhauer der bürgerlichen Wissenschaft ihren kraft Quelle und Methode erhobenen Anspruch auf Objektivität und Rationalität des Erkennens bestreitet, so bedeutet das allerdings nicht, dass er den gesellschaftlichen Auftrag, der sich hinter diesem Anspruch verbirgt, durchschaute und also den vom bürgerlichen Geist des 19. Jahrhunderts ins Spiel gebrachten szientifischen Wahrheitsbegriff als Apotropäon gegen die interessierte Erkenntnis einer in bestimmter Negation die bürgerliche Gesellschaft in Frage stellenden sozialistischen Perspektive begriffe. Vielmehr bedeutet es nur, dass er einem anderen Strang bürgerlicher Intellektualität zugehört und nämlich jene Intellektuellenrichtung vertritt, die sich angesichts ihrer Dysfunktionalisierung durch die alle universalgeschichtliche Zukunftsperspektive ad acta legende bürgerliche Klasse nicht in den Schmollwinkel einer anämisch-heilsgeschichtlichen Romantik zurückzieht, um dann schließlich für die Aufgabe des szientifischen Wahrheitskults zur Verfügung zu stehen, sondern die den Anspruch auf eine gesellschaftspolitische Funktion aufrechterhält und diesem Anspruch dadurch Raum und Geltung zu verschaffen sucht, dass sie Gesellschaftspolitik neu definiert und aus dem öffentlichen Bereich, dem Bereich staatlich-gesellschaftlichen Handelns, in die private Sphäre, die Sphäre lebenspraktisch-individueller Vervollkommnung und Entfaltung, verlegt.

Diese Richtung, zu deren frühesten Vertretern Schiller mit seinen Briefen zur "Ästhetischen Erziehung des Menschen" zählt und deren geniekultlich-platonische, rechte Fraktion Schopenhauer ebenso maßgeblich repräsentiert wie Ludwig Feuerbach den aufklärerisch-hedonistischen, linken Flügel, macht im genauen Sinne des Wortes aus der Not eine Tugend. Die Not ist dabei einem doppelten Zwang geschuldet, dem die bürgerliche Klasse in Deutschland unterliegt: Einerseits lässt ihre besondere Lage, die ökonomische und soziale Zurückgebliebenheit der Verhältnisse in den deutschen Kleinstaaten, sie einsehen, dass sie die auf der europäischen Tagesordnung stehende industriekapitalistische Entwicklung gar nicht aus eigener Kraft bewerkstelligen kann und dass sie zu deren Durchsetzung auf die Hebammendienste und die Steuerungsfunktionen des die politische Macht noch fester als anderswo in Händen haltenden traditionellen Staates angewiesen ist – dass sie mithin in der paradoxen Situation ist, ihre ökonomische Existenz sich erst einmal von eben der gesellschaftlichen Instanz nachweisen lassen zu müssen, der sie andernorts aufgrund dieser ökonomischen Existenz die politische Macht streitig zu machen beansprucht. Und andererseits lassen die gesamteuropäischen Erfahrungen sie rasch erkennen, wie sehr eine im Sinne ihres industriekapitalistischen Interesses und Vorteils, mithin eine im Sinne ihrer ökonomischen Klassenherrschaft ungehindert ausgeübte politische Macht geeignet ist, die ausgebeuteten Klassen auf die Barrikaden zu treiben und einen mangels jeder wenigstens pro forma neutralen gesellschaftlichen Instanz unkontrollierbaren Sozialkonflikt heraufzubeschwören. Unter dem Eindruck dieser in doppelter Hinsicht ernüchternden Erkenntnis ist die deutsche Bourgeoisie bereit, ihr politisches Emanzipations- und Machtstreben zu dämpfen und sich mit dem Staat vorbürgerlicher Herkunft und traditioneller Prägung zu arrangieren: nämlich in dem Sinne zu arrangieren, dass in modifizierter und mehr oder minder konstitutionell gebundener Form der letztere weiterhin im Amt bleibt und wesentliche politische Machtbefugnisse behält, während er als Gegenleistung dem Bürgertum eine möglichst ungehinderte Entfaltung seiner ökonomischen Interessen, eine nach Möglichkeit ungestörte Ausübung seines industriekapitalistischen Geschäfts garantiert. Als eigengewichtig sich behauptende, nicht völlig zur Kreatur der Bourgeoisie degradierte, quasi den Klassen übergeordnete Agentur kann der Staat seinen ganzen traditionellen Kredit ausspielen und seine ganze habituelle Autorität in die Waagschale werfen, um die Ausbeutungsstrategie der Bourgeoisie finanz- oder strukturpolitisch zu befördern und zu unterstützen und gleichzeitig aber den Ausgebeuteten durch ideologische Veranstaltungen und notfalls auch sozialpolitische Maßnahmen den beruhigenden Eindruck einer gesamtgesellschaftliche Interessen vertretenden und sozialen Schutz gewährenden neutralen Schieds- und zentralen Berufungsinstanz zu vermitteln.

Für die bürgerlichen Intellektuellen hat dieses Arrangement ihrer Klasse mit dem traditionellen Staat die unangenehme Folge, dass sie sich nicht nur, wie oben dargestellt, um alle theoretisch-philosophische Projektionsaufgabe gebracht, sondern mehr noch um jede praktisch-politische Repräsentationsfunktion betrogen finden. Sowenig die bürgerliche Klasse ihre Intellektuellen noch braucht, um eine mittlerweile abgedankte gesamtgesellschaftlich-universalhistorische Perspektive zu reflektieren, zu formulieren und zum Programm auszuarbeiten, sowenig braucht sie sie aber auch, um eine inzwischen dem traditionellen Staat zu treuen Händen übergebene oder vielmehr überlassene politisch-bürokratische Macht zu artikulieren, zu institutionalisieren und in praxi auszuüben. Aufgrund des während der ersten drei Viertel des 19. Jahrhunderts maßgebenden Pakts zwischen bürgerlicher Klasse und traditionellem Staat wird vielmehr der politische Raum weitgehend von vorbürgerlichen, den Staat traditionell tragenden Schichten mit Beschlag belegt, okkupieren und realisieren die res publica oder öffentliche Sphäre im wesentlichen Adlige, Militärs, Geistliche, königliche Verwaltungsbeamte.

Das also ist die Not, in die sich die nicht nur um ihre philosophische Berufung, sondern mehr noch um ihren politischen Beruf, nicht nur um alle programmatische Perspektive, sondern mehr noch um alle parlamentarische Entfaltung gebrachten bürgerlichen Intellektuellen durch die eigene Klasse und deren staatlichen Treuhänder und Vormund gestürzt finden. Und aus dieser Not ihres Ausgeschlossenseins von den Staatsgeschäften und ihrer Nicht-Zulassung zu Politik und Publizität machen sie also die Tugend eines von Grund auf revidierten Politikverständnisses und einer radikal novellierten Öffentlichkeitsarbeit. Von jener Sphäre einer forensisch-bürgerlichen Interessenvertretung und –vergleichung, in die als eine vom Staat monopolisierte Domäne sie ohnehin keine Aufnahme finden, ziehen sie alle Besetzungsenergie ab, um sich statt dessen voll und ganz auf den Bereich ästhetisch-persönlicher Selbstentwicklung und Selbstverwirklichung zu kaprizieren. Statt noch weiter Anspruch darauf zu erheben, ökonomische Klasseninteressen und politische Gruppenambitionen zu vertreten, denen in ihrer aller gesamtgesellschaftlichen Rücksicht baren egoistischen Beschränktheit und vom Machtkalkül bestimmten Parteilichkeit der vorhandene Staatsapparat viel effektiver Vorschub leisten und notfalls auch die erforderliche Zurückhaltung auferlegen kann als sie, verlegen sie sich darauf, ein vom sublimen Interesse an der emphatischen Ausbildung der eigenen Art getragenes, vom hehren Ehrgeiz nach einem Sein im harmonischen Einklang mit dem eigenen Wesen bestimmtes Lebensideal zu verwirklichen. Sie verzichten freiwillig auf jene gesellschaftliche Funktion und öffentliche Aufgabe, die ihnen der im Bund mit der eigenen Klasse agierende traditionelle Staatsapparat ohnehin streitig macht und erklären es zu ihrem persönlichen Anliegen und zu ihrer exquisiten Mission, eine gegen die instrumentelle Abstraktheit des Klassenegoismus sich verwahrende humanistische Sphäre individueller Konkretheit zu kultivieren und ein der Zweckrationalität des mittelfixierten bürgerlichen Machtstrebens entzogenes Leben in Schönheit als in der Unmittelbarkeit des für den letzten Zweck des Menschseins genommenen Sinnenscheins zu führen.

Dabei gilt ihnen der Rückzug aufs Persönliche keineswegs als Flucht ins Private, die Lust am Exquisiten keineswegs als Partikularismus. Vielmehr attestieren sie diesem Vorhaben einer persönlich-sinnlichen Konkretisierung und ästhetisch-harmonischen Lebensführung paradigmatische Qualität und Modellhaftigkeit. Indem sie sich den von materialistischem Zweckdenken und von rationalistischem Egoismus bestimmten Ansprüchen ihrer Klasse entziehen und die öffentliche Vertretung und Verteidigung dieser Ansprüche dem dazu wie gerufen, um nicht zu sagen, wie geschaffen erscheinenden traditionellen Staatsapparat überlassen, um sich statt dessen auf die Entfaltung ihres leiblich-sinnlich gefassten eigenen Wesens, die Ausbildung ihrer persönlich-lebensförmig gewendeten Individualität zu kaprizieren, sehen sie darin mitnichten einen Fall von hedonistischem Eskapismus, von Rückzug in eine Privatsphäre, die für den Verlust an Lebensraum und freier Betätigung Kompensation in Form von Wohlleben und Genussfülle bietet. Was sie vielmehr beanspruchen, ist, die bessere Politik zu treiben, was sie zu tun behaupten, ist, an der Veredelung und Sublimierung des bürgerlichen Charakters selbst zu arbeiten, statt sich im Dienste eines noch ganz und gar unveredelten Bürgertums zu kompromittieren und zugrunde zu richten oder, genauer gesagt, beim Versuch sich aufzureiben, die krud materialistischen Interessen und egoistischen Strategien dieser Klasse einerseits zu vertreten und andererseits aber mit dem durch sie aufs ärgste bedrohten gemeinen Wesen und gesellschaftlichen Ganzen dennoch in ungefähren Einklang zu bringen.

Solche Sisyphosarbeit überlassen sie dem Staat, der mit seiner amtlich-bürokratischen Macht und seiner polizeilich-militärischen Gewalt am ehesten den divergierenden gesellschaftlichen Kräften gewachsen und imstande ist, diese durch eine Mischung aus wirtschaftspolitischer Förderung, finanzpolitischer Steuerung und sozialpolitischer Intervention bei der Stange eines kontinuierlichen, industriekapitalistischen Verwertungsprozesses zu halten. Den Sinn und Nutzen solcher – ihnen politisch die Butter vom Brot nehmenden oder vielmehr sie ums politische Brot als solches bringenden – Staatstätigkeit erkennen die bürgerlichen Intellektuellen dabei durchaus an: Sie respektieren den in die Stellung eines öffentlichen Sachwalters und Vormunds der bürgerlichen Gesellschaft eingerückten traditionellen Staat als eine Notwendigkeit, einen "Notstaat" – der Not des bürgerlichen Tierreichs, des Kampfes aller gegen alle, des allgemeinen Konflikts der konkurrierenden Interessen oder rivalisierenden Willen geschuldet und dazu bestimmt, für jenes Minimum an öffentlicher Ordnung, politischer Kontinuität und sozialem Frieden zu sorgen, ohne das eine gedeihliche industriekapitalistische Entwicklung schlechterdings nicht möglich ist – und schon gar nicht in dem zurückgebliebenen und, um Anschluss an den westeuropäischen Stand zu gewinnen, zur äußersten Forcierung der Entwicklung aufgerufenen Deutschland.

Die Stiftung dieses ordnungs-, struktur- und sozialpolitischen Minimalrahmens, dessen Realisierung Kant sich noch von der "allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft" selbst erwartete, erkennen also die durch die Erfahrung der Naturwüchsigkeit und Blindwütigkeit des Egoismus der eigenen Klasse klug gewordenen bürgerlichen Intellektuellen als eine dem traditionellen Staat zufallende Aufgabe an und akzeptieren insofern auch die für die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts prägende Interessengemeinschaft zwischen Industriekapital und monarchistischem Staatsapparat. Gleichzeitig aber sind sie bemüht, durch ihr ästhetisch-pädagogisches Programm, ihre auf die Bildung des konkreten Menschen, die Veredelung des Sinneswesens Mensch gerichtete höhere Politik jene gesellschaftlichen Bedingungen und klassenspezifischen Gegebenheiten, die den "Notstaat" und sein notständisches Handeln rechtfertigen, zu verändern und nach Möglichkeit aufzuheben. Als paradigmatische Alternative zum tätigen, aggressiven, im Streben nach Macht über andere bestehenden klassenspezifischen Dasein kultivieren sie die sinnige, kontemplative, in die Anschauung ihrer selbst vertiefte individuelle Existenz, anstelle einer in der äußeren Welt nichts als ein Mittel zum Zweck der Selbstvergrößerung und Selbstentfaltung reklamierenden Aneignungs- und Einverleibungssucht propagieren sie eine in dieser Erscheinungswelt den letzten Zweck des Daseins realisierende unmittelbare Selbstdarstellungs- und Verkörperungslust. Paradigmatisch ist diese Alternative, weil der sie pflegende bürgerliche Intellektuelle mit ihr der Gesamtgesellschaft eine Perspektive eröffnen und den Weg in eine bessere Zukunft weisen will. Er, der sich von der eigenen Klasse distanziert und gegen deren zweckrationalen machtpolitischen Egoismus einen selbstverwirklichungsdienlichen bildungsästhetischen Individualismus auf den Schild hebt, erwartet sich von der Durchsetzung dieser bildungsästhetischen Lebensform und von der Verallgemeinerung des in ihr kultivierten Menschentypus die Herstellung einer sozialen Harmonie und zivilen Sichselbstgleichheit, die den als Zwingherrn und leviathanischen Gewalthaber auf den Plan gerufenen "Notstaat" in dem Maß entbehrlich werden lassen, wie sie das konkurrenzhaft-mechanische Gegeneinander des herrschenden bürgerlichen Tierreichs durch das wetteifernd-organische Miteinander schöner Seelen und gebildeter Sinne ersetzen.

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