V.

Sosehr nun zwar die von den Romantikern als ein ebenso bodenloses wie blutleeres Gespenst kontinuierte universalgeschichtliche Perspektive dem speziellen, durch die deutschen Sonderverhältnisse bedingten Zweck einer unentschiedenen Distanzierung von der Gegenwart und ironischen Reserve ihr gegenüber genügen mag, so ungeeignet wirkt sie eigentlich auf den ersten Blick, den Ausgangspunkt und die Grundlage für eine global-systematische Neubestimmung dessen, was wahres Wissen sei, und für eine haltbar-dogmatische Neufassung des zum wahren Wissen führenden Erkennens abzugeben. Dass sie indes genau in dieser Eigenschaft sich bewährt und nämlich zum Ausgangspunkt und zur Grundlage der universitär organisierten geisteswissenschaftlichen Disziplin moderner Prägung wird, – diese auf den ersten Blick überraschende Qualifikation, die sie beweist, ist dem simplen Umstand zuzuschreiben, dass auch noch von anderer Seite als der der bürgerlichen Romantik die ehemals bürgerliche universalhistorisch-gesamtgesellschaftliche Perspektive aufrechterhalten und mit zunehmend antibürgerlicher Wendung und Zuspitzung als ein stante pede zu realisierender Prospekt geltend gemacht wird. Jene andere Seite sind die durch die neue, industriekapitalistische Ökonomie des Bürgertums primär Ausgebeuteten, die vornehmlich durch Rekrutierung aus den handwerklichen und bäuerlichen Schichten der Gesellschaft entstehende Lohnarbeiterklasse, sowie diejenigen Intellektuellen, die sei's ihre soziale Herkunft, sei's ihre charakterologische Disposition bestimmt, sich zum Sprachrohr des ökonomischen Überlebensinteresses und des politischen Selbstbestimmungsanspruchs der Ausgebeuteten zu machen, kurz, es ist die sozialistische Bewegung, die sich unter dem Druck der Industrialisierung im Milieu des durch die Industrialisierung hervorgetriebenen Proletariats zu formieren beginnt. Diese Bewegung greift die vormals bürgerlichen und vom Bürgertum nach dessen politischer Machtergreifung fallengelassenen Forderungen nach politischer Freiheit, sozialer Gleichheit und bürgerlicher Solidarität auf, nicht aber, um sie romantisch zu entleeren und ironisch ins abstrakt-negative Spiel zu bringen, sondern um sie in bestimmter Negation denen entgegenzuhalten, die von ihnen plötzlich nichts mehr wissen wollen.

Bestimmt negativ ist der Modus, in dem die sozialistische Bewegung dem Bürgertum seine alten Forderungen entgegenhält, in dem prägnanten Sinn, dass er geprägt ist von der Erfahrung der politisch-ökonomischen Verhältnisse, die den Forderungen in ihrer alten, bürgerlichen Form den Garaus gemacht haben. Politische Freiheit ist in der neuen, sozialistischen Form, in der sie gefordert wird, nicht mehr nur Freiheit zur politischen Meinungsäußerung und zur Mitwirkung an den gesellschaftlichen Entscheidungen, sondern impliziert wesentlich und primär die Beseitigung des "naturhaft" politischen Übergewichts über die anderen Klassen, das der Bourgeoisie ihre ökonomische Schlüsselstellung, ihre private Verfügung über die gesellschaftlichen Reproduktionsmittel, verleiht. Soziale Gleichheit ist nicht mehr nur staatsbürgerlich-formale Gleichheit vor dem Gesetz, sondern impliziert wesentlich und primär die Überwindung der Klassenschranken durch Herstellung einer materialen Gleichheit der Lebensbedingungen und Entwicklungschancen. Brüderliche Solidarität ist nicht mehr nur der Esprit de corps einer gegen das feudal-klerikale Herrschaftsprivileg verschworenen Interessengemeinschaft des Dritten Stands, sondern impliziert wesentlich und primär die Umfunktionierung der ökonomischen Zwangsvergesellschaftung durch die industrielle Lohnarbeit ins kriterielle Fundament einer als emanzipatorische Assoziation verstandenen politischen Organisation der Werktätigen. Insgesamt also ist die Fortführung oder, besser gesagt, Wiederaufnahme der von der Bourgeoisie fallengelassenen universalhistorisch-gesamtgesellschaftlichen Perspektive gleichbedeutend mit einem bestimmt-negativen Verfahren, das ebenso wohl die Beseitigung der Bourgeoisie und der durch sie etablierten ökonomischen Ausbeutungs- und politischen Unterdrückungsmechanismen wie die Erhaltung, Nutzbarmachung und Fortentwicklung der unter dem bürgerlichen Regime geschaffenen realen Produktionsmaschinerie und sozialen Organisationsstruktur impliziert. Im Resultat ihres eigenen politisch-ökonomischen Tuns sieht sich die Bourgeoisie der Gefahr eines historischen Subjektwechsels konfrontiert, durch den das gesellschaftliche Geschöpf, das sie im Zuge der Entwicklung des industriellen Produktionsapparats in die Welt gesetzt hat und mittels dessen sie die industrielle Apparatur betreibt und entfaltet, eben das Proletariat, sich von ihr, seiner Schöpferin, zu emanzipieren, ihr Eigentum, den Produktionsapparat, zu vergesellschaften und in eigene Regie zu übernehmen und den letzteren mitsamt allen auf ihm basierenden sozialen Verhältnissen nach freiem Ermessen neu zu bestimmen und anders zu ordnen droht.

Jenen historischen Subjektwechsel zu verhindern, hat die Bourgeoisie ein stricto sensu existenzielles Interesse. Verhindern muss sie ihn als praktisch-politische Umwälzung: Zu diesem Zweck ergreift sie staatspolitisch-konfliktstrategische Maßnahmen, von denen später noch zu sprechen sein wird. Aber verhindern muss sie ihn auch und zugleich als theoretisch-ideologische Umorientierung: Und in den Umkreis dieser letzteren Verhinderungsbemühungen gehören ihr Rückgriff auf die oben geschilderte romantische Geschichtsperspektive und ihr mittels dieser Perspektive vorgetragenes geisteswissenschaftlich-erkenntniskritisches Wahrheitskonzept. Womit der drohende Wechsel des historischen Subjekts die Bourgeoisie theoretisch-ideologisch konfrontiert, ist eine systematische Revision der ganzen Geschichte, eine Neufassung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus der Sicht des qua sozialistische Bewegung prospektiv neuen Subjekts und dessen als bestimmte Negation gemachter ökonomischer Erfahrung und gewonnener politischer Bestimmung. Kaum dass sie als Subjekt des gesamtgesellschaftlich-universalgeschichtlichen Prozesses, den sie zuvor ihre Intellektuellen konzipieren ließ, abgedankt und sich auf die Behauptung einer mit ihr eingetretenen Zeitenfülle, eines ebenso sehr in immanenter Entfaltung begriffenen wie in kontinuierlicher Gegenwart befangenen Endzustands der Geschichte verlegt hat, findet sie sich durch das neue Subjekt in ihrer geschichtsnegierenden Kontinuität Lügen gestraft und sieht, wie einerseits sich selbst, die zeitlos perennierende Gegenwart, zum Durchgangsmoment und verschwindenden Stadium eines sie transzendierenden historischen Prozesses herabgesetzt oder vielmehr aufgehoben, so andererseits die ganze in die Immanenz der bürgerlichen Gegenwart gebannte Vergangenheit aus diesem Bann einer die Gegenwart zum Transzendental aller Geschichte erklärenden Kontinuität befreit und in die Prozessualität einer im Kriterium des neuen historischen Subjekts sich reorganisierenden Zukunftsperspektive überführt.

Und es ist wesentlich diese der kontinuitätsmächtigen Immanenz der bürgerlichen Gegenwart entrissene und kraft der zukunftsträchtigen Transzendenz der sozialistischen Bewegung reorientierte Vergangenheit, zu deren Abwehr die Ideologen der Bourgeoisie auf die romantische Version der zuvor von ihr preisgegebenen universalhistorischen Perspektive zurückgreift. Weil sie ihre Strategie einer Arretierung und Stillstellung des historischen Prozesses im Nonplusultra bürgerlicher Gegenwart durch das Auftauchen des von ihr selber hervorgetriebenen neuen historischen Subjekts durchkreuzt sieht, begegnet sie der universalhistorischen Wiederaufnahme des Prozesses durch dieses neue Subjekt und der dadurch der bürgerlichen Gegenwart selbst und der ganzen vorbürgerlichen Vergangenheit widerfahrenden bestimmt-negativen Uminterpretation mit der entsubstantiiert und entaktualisiert romantischen Version von Universalgeschichte, mit der im Interesse einer unverbindlich-ironischen Distanzierung von der bürgerlichen Gegenwart sich zuvor die bourgeoisieeigenen Intellektuellen gegen ihre Klasse verwahrt haben. Angesichts der konkreten Kritik, mit der die als neues historisches Subjekt ihrem Tun entspringende andere Klasse ihr zu Leibe rückt, freundet sie sich jäh mit der abstrakten Negativität an, kraft deren ihre eigenen frustrierten Intellektuellen Abstand von ihr und ihrer die Intelligenz mit Funktionslosigkeit bedrohenden Gegenwart zu gewinnen suchen; sie ist einverstanden damit, dass diese Negativität durch die Intellektuellen in den Rang eines qua wissenschaftliche Haltung anerkannten und etablierten selbstkritischen Unternehmens der ganzen Klasse erhoben wird.

Was ihr an der romantischen Negativität gefällt und was diese ihr als Apotropäon gegen die bestimmte Negation des neuen historischen Subjekts annehmbar erscheinen lässt, ist die besagte Indifferenz, die sie der bürgerlichen Gegenwart als solcher beweist, ist die Art und Weise, wie sie eher von der bürgerlichen Gegenwart in genere nichts wissen will, als auf deren spezifische Verneinung zu sinnen, wie sie sich eher über die bürgerliche Gegenwart dogmatisch hinwegsetzt, als durch sie kritisch hindurchzugehen, ist, kurz, die Tatsache, dass sie eher im Absehen und Abstrahieren von der bürgerlichen Gegenwart besteht, als dass sie auf deren Überwindung und Aufhebung bestünde. Diese Eigenschaft der romantischen Geschichtsphilosophie, den von ihr festgehaltenen aufklärerisch-universalhistorischen Anspruch frei vom Anhalts- und Reflexionspunkt der Gegenwart zu präsentieren, ist von doppeltem Nutzen, weil sie nicht nur eine genehme historiographische Alternative zur bestimmt negativen, spezifisch gegenwartskritischen Geschichtsversion des neuen historischen Subjekts bietet, sondern weil sie mehr noch und vor allem in die Abstraktion von der bürgerlichen Gegenwart auch das dieser Gegenwart entspringende neue historische Subjekt selbst einschließt und also die durch letzteres vermittelte Geschichte ein und derselben Diskreditierung aussetzt wie die im Bann der bürgerlichen Gegenwart verhaltene Historiographie. Die in ihrer Negativität und abstrakten Indifferenz gegenüber der bürgerlichen Gegenwart implizierte doppelte Leistung, nicht nur eine im Vergleich zur bestimmt negativen historischen Gegenwartskritik des sozialistischen Subjekts annehmbare Alternative zu bieten, sondern mehr noch ex cathedra der Alternative das sozialistische Subjekt als vergangenheitsorientierenden, geschichtsbestimmenden Faktor ebenso kategorisch zu dementieren und perspektivisch zu disqualifizieren wie die bürgerliche Gegenwart, der es entspringt – diese doppelte Leistung ist es, worum es der Bourgeoisie bei der romantischen Geschichtsversion zu tun ist und weswegen sie jene Version aufgreift. An deren "positiver", in wie immer ätherischer oder anämischer Weise für den Verlust der bürgerlichen Klasse als historischen Subjekts ersatzleistender Funktion hat hingegen die Bourgeoisie kein Interesse. In ihrer inhaltlichen Bedeutung einer pseudokatholischen Heilsgeschichte, einer nicht zwar mehr in aktuell gegenwärtigen bürgerlichen Ambitionen und Interessenverbindungen gründenden, dafür aber auf virtuell präsente christliche Gefühle und Seelengemeinschaften bauenden universalhistorischen Motion kann die romantische Geschichtsperspektive ihr gestohlen bleiben.

Schließlich tritt mit dem Anspruch einer "Ersatzleistung" für die preisgegebene universalhistorische Perspektive der als historisches Subjekt abgedankten bürgerlichen Klasse ja mittlerweile eben die vom sozialistischen Subjekt propagierte dialektisch-materialistische Geschichte auf, gegen deren bestimmt negative Version von der vorbürgerlichen Vergangenheit und der bürgerlichen Gegenwart der Rückgriff auf eine in romantischer Negativität und Indifferenz verhaltene Geschichte sich wesentlich richtet. Und diese "Ersatzleistung" ist alles andere als anämisch, ist ihrem Selbstverständnis nach alles andere als ein "Ersatz": vielmehr versteht sie sich in Einklang mit dem Bewusstsein der Geschichtsmächtigkeit, von dem das sie sanktionierende neue historische Subjekt erfüllt ist, als Fortführung, Einlösung, Aufhebung der vormals bürgerlich konzipierten Universalgeschichte. Dieser vom Bewusstsein ihrer Aktualität und Zukunftsträchtigkeit durchdrungenen sozialistischen Universalgeschichte als einem veritablen Aufhebungsprodukt der bürgerlichen deren blutleeren Schemen und Ersatz, eben die romantische Heilsgeschichte, als inhaltliche Alternative entgegenzuhalten, wäre albern und von vornherein zum Scheitern verurteilt. So gesehen, tut die Bourgeoisie gut daran, sich bei der Adaption der romantischen Historiographie auf deren negative Funktion, eben auf die Indifferenz und irreale Abstraktheit, in der sie die Vergangenheit gegenüber der Gegenwart verhält, zu beschränken und jeden Versuch der inhaltlichen Verankerung dieser gegen die bürgerliche Gegenwart und alle ihre historischen Folgen absolut gleichgültigen Geschichte in einer Ersatzgegenwart nach Art der perennierenden christlichen Liebesgemeinschaft und Verbindung im Heiligen Geiste zu unterlassen.

Indes, so gut sie beraten ist, ihre gegenwartsindifferente Geschichte nicht auf eine durch ebenso viel Gedankenblässe wie Seelentiefe ausgezeichnete romantische Ersatzgegenwart zu gründen, sowenig kommt sie doch daran vorbei, ihrer Geschichtsversion durch irgendeine andere Form von Gegenwartsfundament Überzeugungskraft und Verbindlichkeit zu verleihen. Schließlich ist es das Wesen aller Geschichtsschreibung, Vergangenheit sub specie der Interessen und Intentionen der Gegenwart zu interpretieren, sie in actu dessen, was die Gegenwart weiß, glaubt und vorhat, zu organisieren. Und schließlich ist es diese wesensgemäße Begründung in Empirie und Begriff der Gegenwart, diese reflexive Bestimmtheit durch Körper und Geist der aktuellen Situation, was der dialektisch-materialistischen Universalgeschichte des im Schoße der bürgerlichen Gegenwart gezeugten neuen sozialistischen Subjekts ihre Attraktivität und Überzeugungskraft, ihre Geschichtsmächtigkeit und Vergangenheit aufschließende Wirkung verleiht. Wenn also im Gegenzug gegen diese in der Empirie des neuen historischen Subjekts verankerte sozialistische Geschichte und in Abwehr des der bürgerlichen Gegenwart als vorgeblicher Zeitenfülle von dieser Geschichte her drohenden bestimmten Negation und kritischen Aufhebung die Bourgeoisie auf die von Negativität gegen alle präsente Empirie, von absoluter Gegenwartsindifferenz erfüllte Geschichtsversion der Romantik zurückgreift, so tut sie gewiss gut daran, zur Substantiierung dieser gegenwartsindifferenten Geschichtsversion nicht die romantische Ersatzgegenwart einer vom Geiste ewigen Strebens erfüllten zeitübergreifend-pseudokatholischen Gefühls- und Liebesgemeinschaft zu bemühen. Aber gleichzeitig braucht sie solch eine Substantiierung, solch eine reflexive Verankerung ihrer Vergangenheitsversion in einer Gegenwart, weil sie andernfalls der von Aktualität gleichermaßen getragenen und erfüllten sozialistischen Universalgeschichte bloß eine Vergangenheit entgegenhalten könnte, die in sich selber verginge, weil sie Vergangenheit nicht von etwas, sondern von nichts wäre, die also, bar jeden determinierenden empirischen Anhalts und organisierenden faktischen Bezugs, einem Schatten ohne Leib, einem Spiegelbild ohne Sichspiegelnden, einer Projektion ohne Projektor gleichkäme und die mithin nicht einmal mehr den romantischen Schemen einer Geschichte, sondern einzig und nur noch die Absage an alle Geschichte unter der Maske eines historischen Schemas darstellte. Wie sollte eine Vergangenheit, die ausschließlich ex negativo ihrer absoluten Gegenwartsenthobenheit, einzig und nur im Sinne ihrer strikten Beschränkung auf den imperfektivisch abstrakten Aspekt ihrer selbst organisiert wäre und die ansonsten ohne jede empirische Begründung, bar jeder faktischen Beglaubigung durch die Gegenwart bliebe, deren Vergangenheit sie doch nolens volens ist – wie sollte eine solche der perspektiv- und pointenlosen Vermeidungsstrategie entsprungene und auf das Nichts gleichermaßen ihrer funktionellen Irrelevanz und ihrer strukturellen Unwirklichkeit hinauslaufende Vergangenheit sich gegen eine Geschichte behaupten können, die in dem Maß handgreifliche Wirklichkeit beansprucht und sinnenfällige Überzeugungskraft beweist, wie sie Reflexionsprodukt der aktuellsten Erfahrungen und Quintessenz der virulentesten Bestimmungen der Gegenwart ist.

Die Bourgeoisie gerät so bei ihrem apotropäisch gegen die sozialistische Geschichtsschreibung gewendeten Rückgriff auf die romantische Historiographie in eine merkwürdige Klemme. Einerseits geht es ihr um eine Geschichte, die in absoluter Diskretheit und in abstrakter Exklusivität gegenüber der bürgerlichen Gegenwart mitsamt allem ihr entspringenden revolutionär proletarischen Präsens verharrt und sich in dieser gegenwartsindifferenten Negativität wesentlich erschöpft. Und andererseits aber muss sie diese gegenwartsunbezügliche Geschichte, um sie nicht zur leeren Versicherung und zur hohlen Geste einer subjektlos irrealen Perspektive verkommen zu lassen und ihr vielmehr die Geltung eines ernstzunehmenden Konkurrenzunternehmens zur Geschichte des neuen historischen Subjekts zu verschaffen, in einer Aktualität besonderer Art oder Empirie eigener Provenienz begründen, mithin als auf ihre Weise nicht weniger gegenwartsvermittelt als die historisch-materialistische Geschichtsversion nachweisen. Die Lösung dieses Dilemmas, zur Abwehr revolutionär präsenter Ansprüche an die Vergangenheit eine explizit gegenwartsunbezügliche oder gegenwartsindifferente Geschichte konstruieren zu müssen, die zu ihrer Beglaubigung dennoch eines empirischen Zeugnisses der Gegenwart bedarf – die Lösung dieses eigentlich unlösbaren Widerspruchs findet die Bourgeoisie oder finden vielmehr ihre Intellektuellen, die unter dem Konkurrenzdruck des neuen historischen Subjekts und seiner Sachwalter aus ihrem romantischen Schmollwinkel heraustreten und sich im Dienst der Klasse neu engagieren – diese unlösbare Lösung also finden sie in der Wiederaufnahme eines anderes Moments der von der romantischen Universalhistorie bemühten heilsgeschichtlich-christlichen Tradition, nämlich im Rückgriff auf die Tatsache, dass es neben der Gegenwart der um die Heilsmittel leibhaftig gescharten Glaubensgemeinschaft oder kirchlichen Gemeinde ja auch noch das Präsens der im Reliquarium symbolisch versammelten Gemeinschaft der Heiligen oder Blutzeugen gibt.

Trägt die kontinuierte ecclesia der Gläubigen der heilsgeschichtlichen Perspektive in genere Rechnung, so zollt das tradierte Reliquar der Märtyrer dem speziellen Umstand Tribut, dass die heilsgeschichtliche Perspektive tatsächlich stracks aus der Welt hinausweist, dass die Zukunft, in die sie hineinführt, wesentlich nicht von dieser Welt und vielmehr das qua Himmelreich absolute Anderssein ist. Wenn die Heilsgeschichte als Heilsgeschichte – und das heißt, nicht in der Eigenschaft einer die Erlösung bis zur Wiederkunft Christi vertagenden und bis dahin die Heilsmittel verwaltenden irdischen Kirchengeschichte, sondern in der Bedeutung einer in jedem historischen Augenblick das Heil suchenden und findenden himmlischen Heiligengeschichte, – wenn also diese Heilsgeschichte stricto sensu eine historische Aktualität oder empirische Gegenwart hat, so nicht eine, in der sie leibhaftig fortschritte oder durch die hindurch sie lebendig weiterginge, sondern vielmehr eine, in der sie zum Stillstand kommt und den Tod erleidet, abbricht und in Konkurs geht, um aus diesem praesentum crucis heraus in die ewige Gegenwart, die nicht von dieser Welt ist, hinüber- oder in das selige Leben, das im Schoße des Schöpfers aller Dinge ist, zurückzuspringen. Weil Heilsgeschichte als Geschichte der heilmachenden Heiligung wesentlich ein Zugrundegehen aller irdischen Biographie, ein Vergehen der weltlichen Geschichte selbst und eine in solch martyrischer Vergängnis des historischen Vergehens erwirkte Rückkehr ins ewige Bestehen ist, ist die Gegenwart, in der diese Heilsgeschichte Ereignis wird, kein positiver Vertreter und zukunftsweisender Aktivposten des vergangenen Prozesses, sondern höchstens und nur dessen negativer Zeuge und verweisender Restposten, kein empirischer Beweis dafür, dass der vergangene Prozess Zukunft hat, sondern ausschließlich ein Zeichen der Erinnerung daran, dass der vergangene Prozess zuende und der Sprung aus der Zeitlichkeit in die Ewigkeit vollzogen ist.

Diese im Präsens der Reliquie gestaltgewordene Figur einer Geschichte, die im allentscheidend historischen Augenblick ein für allemal ihrer Wahrheit überführt und damit an ihr ebenso unüberschreitbares wie unwiderrufliches Ende gelangt ist, greifen die im Rahmen der bürgerlichen Abwehrstrategie gegen die sozialistische Geschichtsperspektive aus ihrem romantischen Schmollwinkel hervorgezogenen und wieder in Dienst gestellten Intellektuellen auf und machen sie nutzbar. Während sie die heilsgeschichtliche Perspektive als solche fallen lassen und damit auch die Tatsache unter den Teppich kehren, dass in solch heilsgeschichtlicher Perspektive die Wahrheit, deren der historische Prozess überführt wird, nicht von dieser Welt und deshalb der historische Augenblick seiner Überführung momentum crucis, mithin eine Gegenwart ist, in der der ganze Prozess sich selber preisgibt und zugrunde geht, halten sie mit um so größerer Entschiedenheit den der Reliquie eigenen formellen Charakter eines als Wahrheitszeuge absoluten End- und Reflexionspunkts des historischen Prozesses fest und leiten so die Geburtsstunde der historischen Quelle ein. Als eine um ihre fatal jenseitige Bestimmung, ihren ruinös transzendenten Inhalt gebrachte Reliquie ist die Quelle jene bruchstückhaft bleibende Gegenwart, jene versprengt vorhandene Faktizität, in der der Prozess, der zu ihr geführt hat, ebenso wohl zuende gekommen ist und seinen Geist aufgegeben, wie sich verewigt und ein allzeit präsentes Denkmal geschaffen hat. Im Sinne eines Wahrheits- und Authentizitätszeugnisses, das den historischen Vorgang, den es repräsentiert und für den es einsteht, kraft des ruiniert-residualen und geröllhaft-fragmentarischen Charakters, den es aufweist, und dank der beziehungslos diskreten, um nicht zu sagen intentionslos anakoluthischen Stellung zur eigentlichen Gegenwart, die sein Charakter ihm verleiht, aus jedem Zusammenhang mit dieser eigentlichen Gegenwart heraussprengt, ist die Quelle die ideale Empirie für einen historischen Prozess, der in der Gegenwart verankert und durch sie beglaubigt sein will, ohne dass ihm die Gegenwart doch Aktualität vermitteln und eine Zukunftsbedeutung vindizieren soll. Die Quelle ist also ein präsentes Substrat, das mangels intentionaler Kontinuität mit dem übrigen Präsens und mangels eigenen Subjektcharakters das von ihm bezeugte und in ihm sich bewahrheitende historische Geschehen nicht nur vor aller Aktualisierung bewahrt und gegen alle darin implizierte Zukunftsperspektive abschottet, sondern mehr noch ins Bockshorn der unendlichen Reflexion einer perspektivlosen Sichselbstgleichheit jagt – ein Substrat, das damit das Erfordernis, der bürgerlichen Geschichtsversion eine empirische Beglaubigung zu verschaffen, mit der Aufgabe, diese Version von der bürgerlichen Gegenwart und deren drohender sozialistischer Zukunft fernzuhalten, perfekt verknüpft.

Indes ist funktionelle Eignung noch nicht gleichbedeutend mit reeller Überzeugungskraft. Damit die quellenvermittelte – und das heißt, im Schutt und Geröll des Gegenwartsflusses ihre Wahrheitszeugen behauptende und den Vorweis ihrer Objektivität findende – Geschichte geglaubt werden kann und sich gegen die im bürgerlichen Gegenwartsfluss mit Händen zu greifende Evidenz sozialistischer Geschichtsschreibung zur Geltung zu bringen oder gar durchzusetzen vermag, muss sie mit ihrer alle historische Kontinuität abschneidenden und ins Bockshorn des reliquienhaften momentum finis eben nur der Quelle jagenden unendlichen Reflexivität ein reales Moment und in der Tat eine aktuelle Eigenart des Gegenwartsflusses selbst aufnehmen und repräsentieren. Was diese Eigenart ist, hält nicht schwer zu erkennen: Es ist die der bürgerlichen Gegenwart eigene Tendenz, Geschichte von aller Zukunft abzuschneiden und in der falschen Gegenwärtigkeit eines ebenso unüberschreitbaren wie unhinterfragbaren Status quo zu versammeln und kulminieren zu lassen. Indem die bürgerliche Gegenwart dadurch, dass sie auf Zukunft verzichtet beziehungsweise Zukunft in eine Funktion der eigenen, ad infinitum erweiterten Reproduktion verkehrt, sich den Anschein einer alle Geschichte aufhebenden Zeitenfülle, eines ebenso sehr in immanenter Entfaltung begriffenen wie in sichselbstgleicher Kontinuität befangenen Endzustands der Geschichte gibt, verschlägt sie der Vergangenheit alle im Kriterium der Zukunft erkennbare spezifische Differenz, alle an der Zukunft messbare relative Distanz und verwandelt Geschichte in einen Gestaltenreigen zahlloser – in jedem beliebigen chronologischen Szenarium oder Medium der Vergangenheit aufscheinender – Spiegel- oder Abziehbilder des Bildes, das die bürgerliche Gegenwart sich von sich selber macht.

Als auf die bürgerliche Gegenwart selbst in ihrer Lebendigkeit und Aktualität bezogene hat allerdings wegen des der Lebendigkeit entspringenden und sie über sich selbst hinaustreibenden epochalen Widerspruchs, wegen des die Aktualität durchdringenden und sprengkräftig transzendierenden revolutionären Potentials solch endzeitlich fixe historiographische Sicht keine Chance, sich auf Dauer zu behaupten. So wahr die bürgerliche Gegenwart eigenhändig ihre im proletarischen Präsens und in dessen sozialistischer Perspektive Gestalt annehmende bestimmte Negation hervortreibt, so wahr straft dies ihrem Schoß entsteigende und im Namen einer sozialistischen Zukunft mit ihr konkurrierende Präsens ihren Anspruch, Zeitenfülle, Kulminationspunkt aller Geschichte zu sein, Lügen und droht, ihr die Vergangenheit als eine durch sie hindurch prozesshaft auf anderes bezogene Geschichte abspenstig zu machen. Es straft sie Lügen und zwingt sie zu jenem der Romantik entlehnten und funktionalistisch gewendeten historiographischen Gegenentwurf zur sozialistischen Geschichtsschreibung, der strikte Gegenwartsvermeidung betreibt und nämlich Geschichte dadurch zu einem zwar der Verfügung der bürgerlichen Gegenwart, aber eben auch dem Zugriff ihres revolutionären Präsens entzogenen Unternehmen sui generis werden lässt, dass er die Vergangenheit, wie geschildert, ins Bockshorn jener reliquienhaften Ersatzgegenwart jagt, als welche die ineins die Wahrheit der Geschichte bezeugende und der Geschichte den Weg verlegende historische Quelle firmiert. Diese historische Quelle aber tut damit, dass sie in einer perfekten Kombination von formalem Gegenwartszeugnis und materialer Gegenwartsverleugnung als Bockshorn für die Vergangenheit fungiert und Geschichte in die perspektivlose Finalität eines in ihrer museal-zukunftslosen Empirie ebenso abgeschlossenen wie stillgestellten Vorgangs bannt, in specie ihrer bruchstückhaft-diskontinuierlichen Partikularität exakt das Gleiche, was in genere ihrer systemhaft-omnipräsenten Totalität auch die bürgerliche Gegenwart tut: Sie verwandelt Vergangenheit in ein Spiegel- und Abziehbild ausschließlich ihres eigenen, zukunftslos perennierenden Bestehens. So gesehen ist die Quelle Ersatzgegenwart nicht nur im negativen Sinn einer die Vergangenheit von der bürgerlichen Gegenwart abziehenden und sie an deren Statt als Geschichte dingfest machenden alibihaften Deflektions- und Entstellungsinstanz, sondern auch und ebenso sehr in der affirmativen Bedeutung eines die dingfest Gemachte nach dem Vorbild der bürgerlichen Gegenwart sichselbstgleich präsentierenden ubiquitären Reflektions- und Darstellungsmediums. Wie die bürgerliche Gegenwart belegt auch die historische Quelle die Vergangenheit als Zeitenfülle und unüberschreitbarer Endzustand mit Beschlag – nur dass gemäß dem fragmentarisch-obsoleten Charakter der Quelle jetzt das Ubiquitäre dem Partikularen, die Gegenwart als strukturiertes System, als organisierte Totalität, der Gegenwart als Knochenhaufen, als Schädelstätte gewichen ist. Weil die qua Quelle zur Geltung gebrachte Ersatzempirie an die Stelle der einen lebendigen Gegenwart die vielen Überreste und Bruchstücke treten lässt, deren Gegenwärtigkeit eben darin sich erschöpft, Reminiszenz vergangener Gegenwart zu sein, und weil also die Gegenwart als Fluss und Kontinuum durch die Gegenwart als Sediment und Geröll ersetzt ist, zeigt sich die darin zur Geschichte gespiegelte Vergangenheit entsprechend fragmentiert und in ein kaleidoskopartig facettiertes Sammelsurium unvermittelter Anekdoten zerfallen. Statt des einen lebendigen Organismus der bürgerlichen Gegenwart beansprucht jeder einzelne Knochen der als Ersatzgegenwart firmierenden Quellenempirie tendenziell seine eigene Geschichte und gewinnt für seinen Anspruch Legitimität und Plausibilität eben daraus, dass er im kleinen oder in parte ebenso zukunftsfeindlich und exklusiv mit der Vergangenheit umspringt wie die bürgerliche Vergangenheit mit ihr im großen oder in toto verfährt. Die Folge dieses vom Scherbenhaufen der Quellenempirie über die Vergangenheit gehaltenen und sie in eine unendliche Vielzahl von Geschichten zerspringen lassenden historiographischen Scherbengerichts ist die Verwandlung des oben der bürgerlichen Gegenwart zugesprochenen historischen Gestaltenreigens in eine Mischung aus Totentanz und Hexensabbat, der ganz und gar nichts mehr von dem Ewigkeit signalisierenden Geisterreich anhaftet, zu dem nicht lange zuvor Hegel die in der Zeitenfülle der lebendigen bürgerlichen Gegenwart kulminierende Vergangenheit einen Augenblick lang verklärt sah.

Indem die bürgerliche Geschichtswissenschaft kraft Quellenempirie die Vergangenheit in unendlich viele, monadologisch verschiedene Geschichten zersplittert, bezahlt sie mithin den Schein von Gegenwartsunvermitteltheit und Objektivität, den sie mittels der als Quelle firmierende Ersatzgegenwart ihrer Historiographie vindiziert, mit dem Problem historischer Einheit und Kontinuität. Jene quellenvermittelt vielen Geschichten, die sie hervortreibt, verhalten sich tendenziell ebenso disparat und diskret zueinander wie der zu Quellen erklärte Trümmer- und Scherbenhaufen, in dem sie gründen. Dieses Problem eines rational nachvollziehbaren Zusammenhangs der Geschichten, das die Wissenschaft durch ihren Rekurs auf die Quellenempirie selber heraufbeschwört, löst sie mittels des zweiten, für ihre Konstitution entscheidenden, erkenntnisbestimmenden Topos, mittels der Methode. Wenn es die Sache der Quellenkategorie ist, die Vergangenheit ins Bockshorn jener zukunftslos überdauernden, intentionslos präsenten Restbestände der historischen Entwicklung zu treiben, die eben wegen ihrer Zukunfts- und Intentionslosigkeit die verfängliche bürgerliche Gegenwart als empirisches Zeugnis zu substituieren taugen, so ist es die Aufgabe des Methodenbegriffs, die unverbundene Mannigfaltigkeit und monadologische Diskretheit von Geschichten, in die dieser Rekurs auf die Quellenempirie die Vergangenheit auseinander sprengt, halbwegs wieder zu heilen. Die Methode besteht dabei in der Hauptsache in einer die Quellenempirie ergänzenden Quellenkritik, das heißt darin, via obliqua einer zwischen den Quellen ermittelten chronologischen Abfolge die aus den Quellen fließenden Geschichten in eine als historischer Prozess sich wenigstens pro forma gerierende Ordnung zurückzubringen. Dadurch, dass eine als kritische Behandlung der Quellenempirie sich verstehende Relativierungs-, Konjekturierungs- und Datierungsarbeit den Quellen qua Chronologie eben die formale Kontinuität nachweist, die im Sinne einer inhaltlichen Verbundenheit diese kraft ihrer Bruchstückhaftigkeit und Diskretheit der Vergangenheit austreiben, staucht sie die anekdotisch vielen, quellenentsprungenen Geschichten als Episoden oder Sequenzen in den wie immer zur äußerlich-temporalen Aufeinanderfolge rationalisierten Kontext einer einheitlichen Geschichte zurück und ermäßigt so das wirre Kaleidoskop zusammenhanglos monadischer Geschichtssplitter zum bunten Bilderbogen eines immerhin durch die Sukzession der Zeit zusammengehaltenen historistischen Konstrukts.

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