XV.

Insofern der Phänomenologe mit seiner wahnhaften Neubegründung der bildungsbürgerlichen Erscheinungswelt eine als Identifikation mit dem Aggressor begreifliche antizipatorische Verkehrung und halluzinatorische Verklärung des empiriologischen Wesens Kapital, das die Erscheinungen bedroht und negiert, in deren ontologisches Substrat oder eidetischen Logos intendiert, liegt Objektivismus, die Suggestion eines ganz und gar in die phänomenale Sphäre als solche gebannten Ereignisses, in der Logik solchen wahnhaften Tuns. So wahr das kapitale Wesen selbst die Stellung eines ganz und gar objektiven Bezugspunkts der Phänomene, einer wie die Erscheinungen aus eigener Machtvollkommenheit kraft des variablen Teils ihrer selbst, kraft Arbeit, setzenden, so sie auch aus eigener Machtvollkommenheit kraft ihres eigenen zirkulativen Tuns, kraft Wertrealisierung, wieder aufhebenden Macht sui generis beansprucht, so wahr muss sich das als erscheinungseigener Wert, als phänomenaler Logos geltend gemachte Vexierbild des kapitalen Wesens, das zwecks Sicherung der Erscheinungswelt gegen ihre manipulative Vereinnahmung und massenkonsumtive Funktionalisierung durch den kapitalen Akkumulationsprozess der Phänomenologe ins Feld seiner wahnhaften Projektion führt, in einer entsprechenden Selbstmächtigkeit und Subjektunabhängigkeit, kurz, Objektivität behaupten. Von daher gesehen, könnte die Reflexion auf die konstitutionstheoretische Rolle, die bei alledem doch aber das Subjekt spielt, könnte jene transzendentallogische Besinnung, die sich bereits beim späten Husserl andeutet und die bei seinem Schüler Heidegger ins Zentrum der philosophischen Konstruktion tritt, ein vernünftiger, ein selbstaufklärerischer Schritt, Zeichen des Zusichkommens, des Erwachens aus dem Wahn, Ausdruck der Besinnung im umgangssprachlichen Sinne geistiger Genesung und Normalisierung scheinen. Dass Heidegger die Husserlsche Ontologie in eine Existentialontologie überführt, dass er es unternimmt, dem Sein der Erscheinungen, dem phänomenalen Wesen, das auf es sich richtende, es erkennende Subjekt als Konstitutiv oder – im weniger auf Stiftung als auf Anstiftung angelegten Heideggerschen Pathos geredet – als Existential nachzuweisen, könnte den Eindruck machen, Einsicht in die Tatsache zu sein, dass jene den Phänomenen kraft selbstbezüglichen Seins unterstellte Objektivität bloßer Objektivismus, schiere Hypostase ist, dass, wie schon das empiriologisch kapitale Wesen selbst, so auch und mehr noch sein in den Erscheinungen als ihr ontologisches Substrat reproduziertes Vexierbild weit entfernt davon ist, ein von Subjektinteressen freies, von menschlichen Strategien unabhängiges Objektiv zu sein und vielmehr wie im ersteren Fall gegenständlicher Ausdruck eines gesellschaftlichen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisses, so im letzteren Fall verdinglichte Chiffre eines Anspruchs auf die Rettung einer schichtspezifischen Lebensform oder, kurz gesagt, eines Strebens nach Klassenerhalt ist.

Von solch aufklärerischen Absichten und kritischen Einsichten ist allerdings Heidegger, wie der höchst unkritische, durch und durch affirmative Sinn seiner transzendentallogischen Wendung deutlich macht, wie mit anderen Worten die Tatsache zeigt, dass sein Versuch einer subjekttheoretischen Fundierung der phänomenologischen Ontologie das phänomenale Sein zu bekräftigen, nicht zu entkräften dient, denkbar weit entfernt. Wenn Heidegger es unternimmt, die Husserlsche Ontologie existentialontologisch zu begründen, so nicht, um vom Husserlschen Wahn eines dem heteronom-kapitalen Wesen vexierbildlich nachgebildeten autogen-phänomenalen Seins Abstand zu nehmen, sondern um das Wahngebilde historisch fortzuschreiben und das heißt, auf den neuesten Stand der politisch-ökonomischen Entwicklung zu bringen. Kennzeichnend für diesen neuesten Stand der Entwicklung ist das nationalsozialistische Vergesellschaftungsmodell, eine als faschistischer Aufbruch zelebrierte politische Strategie, die darauf zielt, das kapitale Wesen vor seinen selbsterzeugten ökonomischen und sozialen Krisen durch einen in persona des Staats führerkultlich gestifteten Bund und vielmehr kurzgeschlossenen Pakt zwischen Kapital und Arbeit zu retten. Indem der im Führer gestaltgewordene Staat, der ineins als Nothelfer beschworene und zum Kairos überhöhte Souverän, das Kapital zu seiner Substanz und sich selbst zur mystischen Verkörperung der qua Volksgemeinschaft homogenisierten arbeitenden Bevölkerung erklärt, gelingt ihm der ideologische Salto mortale einer Vereinigung der widerstreitenden gesellschaftlichen Kräfte Kapital und Arbeit zu einer die Kapitalakkumulation in der Bedeutung eines Dienstes am Volkskörper, im Modus einer pathetischen Selbstentfaltung betreibenden Arbeitsfront. Kraft Identifizierung mit dem heroischen Führer, dem corpus mysticum des als historisches Individuum gestaltgewordenen nationalstaatlichen Willens werden die entweder asozial-atomistischen oder, schlimmer noch, revolutionär-sozialistischen Massen der industriekapitalistischen Gesellschaft zu einer nach Maßgabe ihrer militärischen Organisationsform weniger organizistischen als faschistischen Funktionseinheit gebündelt und unter die Botmäßigkeit jenes kapitalen Wesens zurückgebracht, dem als einem sie für seine Zwecke funktionalisierenden und heteronomisierenden ökonomischen Prinzip sie in Indifferenz zu entgleiten oder gar prononciert in die Quere zu kommen drohen und das aber dadurch, dass ihre politische Identifikationsfigur es zu seiner ureigenen Sache und Substanz erklärt, sich ihnen in der neuen Bedeutung eines autogenen Zwecks und tragenden Telos offenbart.

Es ist nichts anderes als dieser von Staats wegen der kapitalistischen Ökonomie geleistete politische Flankenschutz, dieser Einsatz des führerkultlich personalisierten Staates in der Funktion des Kapital und Arbeit in Personalunion repräsentierenden und zum corpus mysticum einer wertschaffenden Volksgemeinschaft verschmelzenden Retters der dadurch zur Haupt- und Staatsaktion erhobenen kapitalistischen Ordnung, was Heidegger mit seiner Überführung der Husserlschen Ontologie in Existentialontologie nachvollzieht. Was der führerkultlich personalisierte Staat im Blick auf das kapitale Wesen vollbringt, dass er es gegen alle ihm drohende sozialistische Negation behauptet oder vielmehr die sozialistische Negation in die nationalsozialistische Affirmation des kapitalen Wesens umwendet, eben das leistet die Heideggersche Existenz, sein zum "Dasein" erhobenes, zu emphatischer Präsenz aktualisiertes transzendentales Subjekt: sich ins Nichts hineinhaltend, im Nichts behauptend, bannt es die Negativität und verkehrt sie ins Potential, in den positiven Grund jenes phänomenalen Seins, als dessen actus purus, dessen Hüter und Erhalter es sich hiermit bewährt. In haargenau derselben Weise, wie in der gesellschaftlichen Wirklichkeit die politische Gewalt, der Staat, sich als Repräsentant der werkschaffenden Massen, als paradigmatisches Subjekt aus dem Volk, als die verkörperte Identität der Nation geriert, stilisiert sich in der Heideggerschen Ideologie die des Seins eingedenke Subjektivität, das Dasein, dem das am Herzen liegt, was alles Seiende allererst sein lässt, als das die Masse aus ihrer Seinsvergessenheit aufrüttelnde und zur Besinnung bringende existentielle Individuum, als der das in Bewandtnissen verstrickte Man ins Wesentliche wendende Mann, kurz, als jenes in notständischer Selbstbehauptung begriffene, grenzsituative Subjekt, dem, wo aber die Not am größten ist, auch das Rettende wächst und dem es nämlich gelingt, das dem Seienden, der Erscheinungswelt, qua Seinsvergessenheit drohende Nichts zu bannen und in den generischen Abgrund oder paradoxen Grund jenes Seins zu verwandeln, das im Gegenteil dem Seienden ontologischen Bestand und phänomenologische Geltung verleiht.

Indes, so wahnhaft diese aus der politischen Sphäre in den phänomenologischen Reflexionszusammenhang übertragene und dem Sein als transzendentale Zusatzbestimmung beigegebene existentialontologische Subjektmystik ist, so hirnlos ist sie auch. Schließlich ist das zur Bewahrung der Substanz der bürgerlichen Gesellschaft, zur Rettung des kapitalen Wesens, auf den politischen Plan gerufene Führersubjekt, will es seinen Auftrag erfüllen und sich den in die kapitale Arbeitsfront einzugliedernden Massen als Identifikationsfigur plausibel machen, ebenso sehr in eigener Person gehalten, Mimkry zu treiben und sich als kleiner Mann von der Straße oder schlichter Weltkriegsgefreiter den Massen als ihresgleichen zu präsentieren, wie objektiv gezwungen, die ganze, um ihn herum inszenierte Bewegung diesen Massen sozialphysiognomisch nachzubilden und klassencharakterologisch anzuähneln. Und schließlich ist der so als Volksbewegung im Sinne des Wortes sich gerierende faschistische Aufbruch denkbar weit entfernt davon, sich den Klassenerhalt des Bildungsbürgertums und nämlich die Rettung und Erhaltung einer von letzterem als Basis seiner Lebensform reklamierten Phänomenalität angelegen sein zu lassen, und im Gegenteil einzig und allein darauf aus, ohne Rücksicht auf solche aparte Phänomenalität und durchaus zu deren Lasten einem qua Wertrealisierung das Komplement zur bedingungslosen Wertschöpfung durch die Arbeitsfront bildenden haltlosen Massenkonsum Vorschub zu leisten (auch wenn dieser Massenkonsum um einer möglichst raschen ökonomischen "Sanierung" willen erst einmal eher ideologisches Versprechen bleibt, als ökonomische Wirklichkeit wird, und sich tatsächlich eher in Gestalt von Kanonen für den Großkonsumenten Staat als in Form von Butter für die konsumierenden Massen verwirklicht). Von daher gesehen, zeugt Heideggers Bereitschaft, das politische Modell einer Rettung des kapitalen Wesens durch den führerkultlichen Staat auf das Husserlsche Projekt zu übertragen und im Sinne einer Rettung des phänomenalen Seins durch ein zu existentialontologischer Eigentlichkeit aufgespreiztes Subjekt ideologisch nutzbar zu machen, von einer geradezu albernen und weniger dem Wahn als der Wirklichkeitsferne geschuldeten Verkennung der Situation. Wie sollte der kleinbürgerlich-proletarische Volksführer, der im Dienste des kapitalen Wesens die Massen mobilisiert, mit dem bildungsbürgerlich-hohepriesterlichen Seinskünder, der im Interesse des eigenen Klassenerhalts das Man existentialisiert, irgend vereinbar sein? Wie sollte die kapitale Verwertungswut, die der Führer der Nation in der zugleich als fanatische Arbeitsfront und als frenetischer Konsumverein konzipierten Volksgemeinschaft zu entfachen strebt, sich mit dem phänomenalen Erhaltungspathos vertragen, das der Mann des Seins gegen alle vom massenhaften Man bewiesene haltlose Verfallenheit ans Seiende und sorglose Seinsvergessenheit zu behaupten sucht?

Kein Wunder, dass Heidegger bald schon die direkte Parallele, die er in seiner Heidelberger Antrittsrede zwischen phänomenologischem Seher und faschistischem Führer zieht und in der seine existentialontologische Berücksichtigung der politischen Entwicklung kulminiert, aufgibt und zu den politischen Verhältnissen halbherzig auf Distanz geht. Und kein Wunder, dass er mehr noch mittels des Tiefsinns der "großen Kehre" das Subjekt in eben der Rolle eines transzendentalen Prinzips oder existentialen Faktors wieder abdankt, die er ihm qua Existentialontologie vorher höchstpersönlich vindiziert hat, um statt dessen zu der von seinem Lehrer Husserl ursprünglich intendierten und jetzt aber zu subjektloser Ereignishaftigkeit überdrehten reinen Objektivität und epiphanisch unmittelbaren Gegebenheit des phänomenalen Seins zurückzukehren. Um die Spuren der massiven gedanklichen Anleihe, die der Phänomenologe Heidegger per Existentialontologie beim Faschismus und dessen unheiliger Allianz von personalisierter staatlicher Gewalt und nationalisiertem kapitalem Wesen macht, zu verwischen, ist allerdings die Tilgung des subjektiven Konstitutivs oder existentialen Faktors allein nicht ausreichend. Zu tief hat sich das kapitale Wesen mit dem als kleinbürgerlich-proletarischer Beweger der Massen die Volksgemeinschaft in der janusköpfigen Gestalt von Arbeitsfront und Konsumverein stiftenden führerkultlich personalisierten Staat eingelassen, als dass es noch unmittelbar in der alten vexierbildlichen Form eines einfach nur mit den Erscheinungen kurzgeschlossenen und damit aus ihrem heteronomen Fluchtpunkt in ihren autogenen Bezugspunkt umgebogenen Fundaments und grundhaften Seins der Erscheinungswelt akzeptabel und glaubhaft wäre. Zu eng hat sich das Kapital auch politisch mit den im faschistischen Führerkult gebündelten massenkonsumgesellschaftlichen Ansprüchen, die es ökonomisch auf den Plan ruft, liiert, als dass es in der alten, per Identifikation mit dem Aggressor verkehrten und umfunktionierten Form noch für die Rettung einer explizit gegen die doppelköpfige Hydra aus Verwertungszwang und Konsumrausch behaupteten Erscheinungswelt verwendbar wäre.

Um – zumal nach dem Zusammenbruch des Faschismus und das heißt, nach dem vorläufigen Scheitern des politischen Modells für seine existentialontologische Mimikry! – jenes als selbstbezügliches Substrat der Erscheinungswelt aufgebotene Ontologikum noch weiter festhalten zu können, entkleidet es deshalb der Nachkriegs-Heidegger aller vexierbildlichen Affinität zum kapitalen Wesen, kurz, aller Aktualität, und verweist es in die dunkelmännische Ungreifbarkeit und nebulöse Ferne eines aller historischen Erfahrbarkeit und systematischen Identifizierbarkeit überhobenen Tiefsinns. Weil für die Begründung der Erscheinungen das kapitale Wesen als die phänomenologisch gewendete, paradox umfunktionierte objektive Macht nicht länger zur Verfügung steht, rekurrieren Heidegger und seinesgleichen auf das subjektive Bedürfnis, das schichtspezifische Interesse, das die Erscheinungen als eine der politischen Ökonomie der kapitalistischen Gesellschaft enthobene und eine Lebensform sui generis begründendende unmittelbare Positivität oder fraglose Gegebenheit ursprünglich in Anspruch nahm und von Anfang an in Kraft erhielt. Dieses überkommene bildungsbürgerliche Interesse an der positiven Erscheinung als der unmittelbaren Grundlage einer kontemplativ-ästhetischen Lebensform wird als solches zum Garanten der phänomenalen Realität erklärt und ersetzt in dieser Eigenschaft das wegen seines faschistischen Offenbarungseids als vexierbildlich-paradoxe Garantiemacht nicht mehr tragbare kapitale Wesen. Aus dem die Phänomene bestimmenden objektiven Sein wird ein sie beschwörender relativer Sinn, aus dem sie identifizierenden idealischen Bezugspunkt wird ein sie umfassender hermeneutischer Horizont, aus der Intuition des Fürwahrhaltens, die den Erscheinungen auf den Grund geht, wird die Tradition des Dafürhaltens, die selber den Grund der Erscheinungen abgeben muss. Dass bereits die Altvorderen und Vorgänger im bildungsbürgerlichen Geiste die Erscheinungen als positiv solche, unmittelbar Gegebene angenommen und für wahr gehalten haben – dies wird zur theoretischen Legitimationsgrundlage für das Festhalten an phänomenaler Positivität und damit praktisch zum Existenzgrund der als solche behaupteten Erscheinungen selbst. Nichts sonst besagt die Rede vom hermeneutischen Zirkel, die aus der offenkundigen Not einer durch nichts mehr als durchs Vorurteil sanktionierten Wissens oder einer durch nichts mehr als durch das traditionelle Interesse an ihr garantierten Objektivität die klammheimliche Tugend dieses auf dem Boden des Vorurteils sichergestellten – und das heißt, der Konfrontation mit wirklicher Erfahrung entzogenen – Wissens oder dieser im Rahmen der interessierten Tradition blind reproduzierten – und das heißt, aller Realitätsprüfung überhobenen – Objektivität macht. Statt der idealischen Identität eines umfunktionierten kapitalen Wesens ist es also die hermeneutische Relativität eines durchgängigen sozialen Interesses, statt eines kraft Identifikation mit dem Aggressor durchgesetzten selbstbezüglichen Objektivismus ein qua Berufung auf den Geist der Väter zelebrierter pseudoreligiöser Traditionalismus, statt einer Ontologie der phänomenalen Substanz eine Archäologie phänomenologischer Insistenz, was der bildungsbürgerlichen Erscheinungswelt Bestand und Kontinuität verleihen soll.

Nicht, dass diese Auswechslung der die Erscheinungswelt garantierenden Instanz, dieser Austausch der objektiven Macht des kapitalen Wesens der Gesellschaft gegen die relative Verbindlichkeit des sozialen Interesses einer Schicht, diese Ersetzung der die Erscheinungen als seinshaltig oder als idealen Sachverhalt begründenden ontologischen Reflexion durch eine die Erscheinungen als sinnvoll oder als ewiges Diskursthema bezeugende hermeneutische Tradition den wahnhaften Zug des phänomenologischen Begründungsverfahrens geringer werden ließe. Schließlich ist und bleibt es Inbegriff wahnhaften Verhaltens, Realität aus einem perennierenden subjektiven Bedürfnis nach ihr, mithin aus der Tatsache, dass sie gefragt ist, statt aus ihrem subsistierenden objektiven Bestand, mithin aus den Bedingungen, durch die sie gegeben ist, herleiten und begründen zu wollen. Deshalb zeigt sich auch diese hermeneutische Begründung der bildungsbürgerlichen Erscheinungswelt, dieses wahnwitzige Verfahren, die traditionelle, in einem Horizont des kontinuierlichen Vorverständnisses oder der permanenten Gleichsinnigkeit vor sich gehende Beschäftigung mit der Erscheinungswelt als faktischen Konstitutionsakt oder als phänomenalen Existenzbeweis gelten zu lassen, nur um den Preis durchzuhalten, dass die Tradition jeder historischen Behaftbarkeit entkleidet und unendlich tief in die Vergangenheit zurückverlegt, der Horizont immer weiter ausgespannt und zur diffusen Arché' verflüchtigt wird, dass also das subjektive Moment an der phänomenalen Konstitution durch Archaisierung, durch ursprungsmythische Mystifizierung ein quasi-objektives Ansehen erhält. Um zu kaschieren, dass die Substanz, die den bildungsbürgerlichen Erscheinungen letztlich zugrunde liegt, kein ihnen als die Sache selbst innewohnendes Wesen mehr, sondern bloß noch das Gespenst jener Tradition ist, die sich für die Erscheinungen interessiert und ihnen als solchen die Treue hält, muss die Hermeneutik dies Gespenst aus der tiefsten mythologischen Tiefe auftauchen lassen, muss sie es als den aller bloßen Subjektivität, aller Willkür des Meinens enthobenen, raunenden, weissagenden Sinnstifter oder geistigen Urheber beschwören und inszenieren.

Aber nicht einmal diese durch Archaisierung erzielte Pseudosubstantiierung dessen, was den Erscheinungen Bestand verleihen soll, kann verhindern, dass die so mittels hermeneutischem Traditionalismus, mittels Sinnstiftung, statt kraft ontologischer Intentionalität, kraft Seinsfindung beschworenen und reaffirmierten Phänomene einem Reduktions- und Entmaterialisierungsprozess verfallen, demzufolge den Gegenstand solcher hermeneutischen Konstitution am Ende nicht mehr die Erscheinungswelt in toto dessen bildet, was menschliche Gesellschaft als ihre Kultur, ihren umfassenden leiblich-seelischen Reproduktionszusammenhang hervorbringt, sondern nurmehr die Erscheinungswelt in parte dessen ausmacht, was an dieser Kultur, diesem gesellschaftlichen Reproduktionszusammenhang explizit Sinnträger, das heißt, weniger auf Konsumtion als auf Kommunikation, weniger auf die Befriedigung von Bedürfnis als auf die Verbreitung von Verständnis gerichtetes Geisteserzeugnis ist. So wahr es nurmehr der als Tradition vorverständige Sinn, das als Horizont einverständige Interesse ist, was den Phänomenen ihr Existenzrecht sichert, so wahr engt sich der Erscheinungsbegriff selbst auf Phänomene ein, die ihrerseits bereits Produkte dieser Tradition sind, die diesem Horizont je schon entspringen und denen Sinn nicht erst nachträglich beigelegt werden, das Interesse sich nicht erst eigens zuwenden muss, sondern die von Haus aus Sinnträger, originäre Ausdrucksformen des Interesses sind. Weil die in Hermeneutik zurückgenommene phänomenologische Begründung nicht mehr auf ein objektives, ontologisches Substrat zu rekurrieren wagt, sondern sich bloß noch auf einen kollektiven, mythologischen Konsens zu berufen traut, schränkt sich de facto dieses neuen Grundes ihr Geltungsbereich von Erscheinungen im allgemeinen auf Darstellungen im besonderen, von realen Seinsformationen auf ideale Sinngefüge, kurz, von generell sinnlichen Gebilden auf speziell sinnreiche Texte ein; demgemäß ist es nur konsequent, dass sie sich vom Anspruch einer Existentialanalyse, Daseinsdeutung, Ergründung von Gegebenem verabschiedet und sich damit bescheidet, Textinterpretation, Literaturexegese, Auslegung von Überliefertem zu sein.

Der Rückzug in einen historisch nicht mehr behaftbaren, entaktualisierenden Obskurantismus und in einen die Grenzen zwischen kollektiver Sinntradition und objektiver Seinskonstitution verschwimmen lassenden ursprungsmythischen Archaismus – dies ist der doppelte Preis, den die Phänomenologie dafür zahlt, dass sie auch nach dem Zusammenbruch des Faschismus und nach dem Scheitern ihres mit ihm verknüpften existentialontologischen Begründungsexzesses an einem für die Phänomene als solche, für die aparte, bildungsbürgerliche Erscheinungswelt geltend zu machenden Seinsgrund oder haltgebenden Prinzip festhält.

Diesen Preis braucht freilich der Existenzialismus, der sich als das genaue Gegenstück zum Konservativismus der Hermeneutik, als die zum ontologischen Traditionalismus alternative Motion zu verstehen gibt, nicht zu entrichten. Er setzt gerade seine kritische Identität und sein reflexives Selbstwertgefühl darein, auf jenes die Phänomene fundierende Sein, dem in der regressiven Form eines bloß noch tradierten Sinns die Hermeneutik die Treue hält, nicht bloß großspurig zu verzichten, sondern es mehr noch mit großer Geste für null und nichtig zu erklären, es als hinter den Erscheinungen lauernde und sie in die eigene Absurdität mit hinabreißende Sinnlosigkeit und Leere offenbar werden zu lassen. Die große Geste allerdings, zu der sich der Existenzialismus dabei versteigt, muss befremden! Sie besteht in einer zum Wiederholungszwang geratenden ständigen Ostentation und quasikultlichen Begehung solcher phänomenologischen Nichtigkeits- und Sinnlosigkeitserfahrung. Statt das von der Phänomenologie beschworene haltgebende Sein hinter der bildungsbürgerlichen Erscheinungswelt als das wahnhafte Nichts, als das es sich herausgestellt hat, zur Kenntnis zu nehmen und dies zugleich als den Offenbarungseid dieser Erscheinungswelt selbst gelten zu lassen, macht das existenzialistische Subjekt um seine Ernüchterung ein großes, anhaltendes Trara, lässt es den Abschied von aller phänomenologischen Seinsgewissheit zum spektakulären Ereignis werden, das es ständig neu zelebriert. Immer wieder wendet es sich mit Aplomb der phänomenalen Wirklichkeit, den gewohnten Erscheinungen, seiner vertrauten Welt zu, immer neu beschwört es in Bild und Wort, in literarischen Ergüssen ebenso wie in philosophischen Manifesten diese ihm liebgewordene Erscheinungswelt, nur um immer wieder die Erfahrung der dahinter lauernden Sinnlosigkeit und Absurdität zu machen, um also in Dauerfunktion jenes Erlebnis bürgerlicher Ungeborgenheit und persönlicher Geworfenheit zu repetieren, das Markenzeichen der ganzen unter dem Namen des Existenzialismus segelnden linksintellektuellen Modeströmung der Nachkriegszeit ist. Unübersehbar prolongiert damit in seiner Reflexionsform das existenzialistische Subjekt über den Zusammenbruch des Faschismus hinaus das staatspolitische Stiftungspathos und führerkultliche Seinsgründungsritual, das die Heideggersche Existentialontologie jenem abgeschaut hat, aber so, dass dabei aus dem staatspolitischen Stiftungsakt ein individualphilosophisches Privatritual, aus der seinsfündigen Gründungstat eine nichtssüchtige Entgründungshandlung, kurz, aus tragischem Ernst ein Satyrspiel, aus der Haupt- und Staatsaktion die Persiflage wird.

Vom Bewusstsein der Komik seiner die existentialontologische Seinsstiftung objektiv persiflierenden Nichtserfahrung ist allerdings das existenzialistische Nachkriegssubjekt denkbar weit entfernt. Was dieses Subjekt tut, wenn es immer neu die Erfahrung des hinter der Erscheinungswelt sich verbergenden Nichts zelebriert, ist für sein eigenes Bewusstsein vollständig frei von allen komischen Anklängen an führerkultliche Seinsstiftungsmystik, geschweige denn, dass es darin eine Ironisierung jener Kollektivmystik durch ihre Degradierung zu einem bürgerlichen Privatritual und ihre Umfunktionierung in ein Mittel zur Decouvrierung der Nichtigkeit dessen gewahrte, was sie vorher zu reaffirmieren und zu beschwören diente. Vielmehr hat für das existenzialistische Subjekt sein an der Erscheinungswelt unablässig wiederholter Absurditätsnachweis die ganze Authentizität und Bedeutungsschwere eines allgemeinmenschlichen Ereignisses oder grundsituativen Vorgangs, kurz, einer existenziellen Erfahrung. Der Grund dafür, dass es gegen die Ironie des eigenen Tuns so immun ist, von der mimikryhaften Lächerlichkeit seiner Aufführung so unberührt bleibt, liegt in dem dringenden und – wenn auch nicht im existenzialistisch-allgemeinmenschlichen, so immerhin doch im bildungsbürgerlich-schichtspezifischen Sinn – existenziell zu nennenden Bedürfnis, das es auf diesem Wege befriedigt. Wenn es das Nichts der bildungsbürgerlichen Erscheinungswelt, das es, vom existentialontologischen Vorkriegsrausch ernüchtert, an die Stelle des phänomenologisch kultivierten Seins treten sieht, statt es als Nichts kurzerhand gelten zu lassen und zur Nachkriegstagesordnung überzugehen, vielmehr zum Gegenstand eines ständig wiederholten Vergewisserungsrituals, eines das, was stiften gegangen ist, immer wieder umzirkelnden negativen Beschwörungsgestus macht, so deshalb, weil es sich von der bildungsbürgerlichen Erscheinungswelt, deren Nichtigkeit es erfährt, nicht trennen kann und, um sich nicht trennen zu müssen, darauf verfällt, den Augenblick der Trennung zum zwangsneurotisch wiederholten Dauererlebnis zu machen. An der bildungsbürgerlichen Erscheinungswelt nach wie vor hängend und von dem Gewinn, den diese, wenn schon nicht in der Gestalt realer ästhetischer Befriedigung, so immerhin doch in der Form sozialen ideologischen Prestiges gewährt, nach wie vor fasziniert, akzeptiert der Existenzialismus zwar das vernichtende Urteil, das die Phänomenologie infolge ihres ebenso albernen wie lüsternen Flirts mit dem Faschismus beim Zusammenbruch des letzteren ereilt und dem ihre existentialontologische Seinsmystik nicht weniger als der führerkultliche Kapitalkult erliegt, aber er akzeptiert das damit über die bildungsbürgerliche Erscheinungswelt verhängte Verdikt der Leere, Sinnlosigkeit und Nichtigkeit eben nur als eine existenzielle Erfahrung, das heißt, als ein zur Wiederholung einladendes traumatisches Erlebnis und funktioniert es damit in eine Gelegenheit um, quasi in letzter Minute die Notbremse zu ziehen und in der Form eines prolongierten Abschiednehmens an eben dem festzuhalten, wovon der Abschied genommen werden soll.

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