3. "Topische Interessen" und das Problem der Zukunft: Wissenschaft als Abwehrzauber

Hat schon mit Rücksicht auf die Vergangenheit und deren historiographische Bewältigung die die restaurierte bürgerliche Gegenwart heimsuchende ahistorische Interesselosigkeit und asoziale Intentionslosigkeit verheerende Folgen, so hat sie ebenso sehr und vollends auch in Ansehung der Zukunft und der historiologischen Bedeutung dieser letzteren katastrophale Konsequenzen. In der Tat ist ja, wie bei der Erörterung der geschichtsphilosophischen Überlegungen Kants sich gezeigt hat, die der Gegenwart eigene futuristische Dimension, jene der Gegenwart innewohnende Potenz des Werdens also, die in ihrer topischen Projektion und anschauungsförmigen Vorwegnahme Zukunft heißt, wenn auch vielleicht nicht geradezu synonym mit, so jedenfalls doch wesentlich abhängig von einem der Gegenwart verfügbaren allgemeinen historischen Interesse und einer durch sie reklamierbaren universalen gesellschaftlichen Intention. Wie sollte dann aber der die restaurierte bürgerliche Gegenwart dem Anschein nach heimsuchende Verlust allen historischen Interesses und jeder gesellschaftlichen Intention die der Gegenwart eigene futuristische Dimension unbeeinträchtigt lassen können? Zukunft – eben dies lässt der von der Analytischen Geschichtsphilosophie mit ebenso viel Bewusstlosigkeit wie Positivität geltend gemachte Zukunftsbegriff deutlich werden – büßt unter dem Eindruck der die bürgerliche Gegenwart in der Restauration ereilenden totalen Interesselosigkeit und pauschalen Intentionslosigkeit den Charakter eines von der Gegenwart lancierten Entwurfs, einer der Gegenwart eigentümlichen Perspektive, eines gegenwartsspezifischen Verhältnisses ein und nimmt stattdessen die Züge eines der Gegenwart begegnenden Widerstands, eines ihr äußerlichen Aspekts, eines ihr fremden Verhaltens an. Indem jene der Gegenwart innewohnende Potenz des Werdens, die, zur Dimension entfaltet, Zukunft heißt, allen, qua allgemeines Interesse ihr gegebenen Subjektcharakter und alle, qua universale Intention ihr verliehene Projektbedeutung verliert, verkehrt sie sich der Gegenwart in einen in ihr steckenden eigengesetzlichen Fremdkörper, entfremdet sie sich ihr zum wider sie löckenden Stachel einer objektiven Verlaufsform. Nicht, dass jene Potenz des Werdens ihren eigentümlichen Sinn einer in der Gegenwart substantiellen Macht und ihre spezifische Implikation eines für die Gegenwart bestimmenden Verhältnisses aufgäbe. Aber indem sie mit dem Verschwinden allen historischen Interesses und jeder systematischen Intention der Gegenwart ihrer gegenwartseigentümlichen Artikulationsebene und ihres gegenwartsspezifischen Reflexionsmediums verlustig geht, entzieht und entfremdet sie sich der Gegenwart und wird aus einer in der letzteren waltenden substantiellen Macht zu einer die letztere überwältigenden Schicksalsmacht, verwandelt sie sich aus einem konstitutiven Verhältnis in einen exekutiven Sachverhalt. Kraft dieser, dem Mangel der Gegenwart an allgemeinem Interesse geschuldeten Verdinglichung dort der substantiell-subjektiven Potenz des Werdens in hier eine akzidentiell-objektive Macht des Schicksals verkehrt sich so die der Gegenwart eigene futuristische Dimension in eine Fremdperspektive, die, statt als topische Projektion der Gegenwart zu Verfügung zu stehen, ihr vielmehr als klinische Kontraindikation in die Quere kommt und die, statt als anschauungsförmige Vorwegnahme ihr den Weg zu bahnen und Vorschub zu leisten, ihr vielmehr als unvorstellbare Antipraxis den Weg verlegt und Einhalt gebietet. Aus einem inneren Verhältnis, das der Gegenwart per medium ihrer historischen Interessen und systematischen Intentionen den autonomen Subjektstatus einer ebenso konzentrierten wie kontinuierlichen Entwicklung zu verleihen beansprucht, wird die der Gegenwart eigene futuristische Dimension zum äußerlichen Bezug einer die Gegenwart im ganzen Umfang ihrer pathologisch-zynischen Interesselosigkeit und idiosynkratisch-spezialistischen Intentionslosigkeit mit dem heteronomen Schicksal der Auflösung und Veränderung konfrontierenden abgründigen Grenze und unbekannten Größe.

Zukunft, die der Gegenwart natürlicherweise eigene Perspektive, entfremdet sich – eben dies lässt der Zukunftsbegriff der Analytischen Geschichtsphilosophie deutlich werden – unter dem Eindruck der für die restaurierte bürgerliche Gegenwart charakteristischen ahistorischen Interesse- und asozialen Intentionslosigkeit zu einer, wie für die Gegenwart selbst, so denn auch für deren Vergangenheitsbewältigung, die durch sie vermittelte und bestimmte Historiographie, die durch sie erzählten "Geschichten", unüberschreitbar existentialen Grenze oder schicksalhaft fatalen Schranke. Als diese existentiale Grenze und schicksalhafte Schranke konfrontiert sie die Gegenwart mit der haltlosen Unvermitteltheit und permanenten Diskontinuität eines immer wieder kataleptischen Endes und immer gleich kategorischen Neubeginns. Indem sie so aber aus einem von der Gegenwart eröffneten Geschichtsprospekt in einen der Gegenwart vielmehr gemachten Naturprozess sich verwandelt und mithin die Gegenwart aus dem Subjekt und Agenten eines historischen Zusammenhangs planvoller Handlungen zum Objekt und Spielball einer schicksalhaften Kette unberechenbarer Setzungen degradiert, sucht die Zukunft an der Gegenwart nur eben das heim, was diese selbst mit den durch sie vermittelten und bestimmten historiographischen "Geschichten" an der Vergangenheit verschuldet. Ein und dieselbe, aus allgemeiner Interesselosigkeit und universaler Intentionslosigkeit entspringende ahistorisch-ziellose Diskontinuität und asozial-unsystematische Unvermitteltheit, die mit ihrer Historiographie die restaurierte bürgerliche Gegenwart der Vergangenheit beschert, rächt nun die Zukunft dergestalt an der Gegenwart, dass sie diese immer aufs neue an die Grenze ihrer augenblickshaft-abstrakten Existenz gelangen und mitsamt ihren "Geschichten" vor den Fall der in futuristischer. Verfremdung jeweils nächsten, ebenso diskontinuierlich anderen wie unvermittelt weiteren Gegenwart kommen lässt. Diesen, von der Zukunft der Gegenwart als Entgelt für ihre Treulosigkeit gegen die Vergangenheit ad infinitum einer naturprozessual unabsehbaren und schicksalhaft fremden Perspektive präsentierten Wechsel hat unter Gesichtspunkten ihrer Selbstbehauptung und im Blick also auf die Wahrung ihrer wenn schon nicht historischen, so jedenfalls doch persönlichen Identität die Gegenwart an sich geringe Ursache zu fürchten. Wenn nämlich auch das, was aus dem Schoß ihres zu unergründlicher Objektivität verselbständigten Daseins die Zukunft der Gegenwart unablässig antut und zumutet, eine der Form nach sie in toto revidierende und ersetzende augenblicklich andere Präsenz und schlagartig neue Existenz ist, so ist doch die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass diesem in aller Form stets wieder radikalen Wechsel und Neubeginn inhaltlich eine vergleichbar fundamentale Veränderung und Neubestimmung korrespondiert. Weil jene der Form nach totalen Neusetzungen oder existentialen Konstitutionsakte, denen die von der Gegenwart losgelassene und als fremdes Verhältnis auf sie zurückschlagende Zukunft die letztere unaufhörlich unterwirft, eben der Kontinuität, die den Wechsel als Veränderung festhalten, oder eben des Vermittlungsmoments, das das Neue als Bestimmtheit realisieren könnte, gerade entbehren und also die Qualität diskontinuierlich reiner Opferhandlungen oder unvermittelt bloßer Verdrängungsleistungen haben, spricht vielmehr alles dafür, dass sie mit ebenso schicksalhafter Unverbrüchlichkeit wie naturprozessualer Sprunghaftigkeit auf eine Erneuerung des immer Gleichen, das heißt, auf eine als Wiederkehr des Verdrängten dramatisierte und in Szene gesetzte Rehabilitation des Gehabten und Restitution mithin der bürgerlichen Gegenwart in integrum ihres restaurierten Bestehens hinauslaufen.

Indes bleibt ein Moment der Ungewissheit. Als eine von der Gegenwart preisgegebene und, wie zur objektiven Schicksalsmacht ihr entfremdete, so als naturprozessuale Dimension gegen sie verselbständigte Potenz des Werdens bleibt Zukunft zugleich der wie immer verdinglichte Inbegriff der wie immer abstrakten Möglichkeit einer Gegenwart, die nicht mehr bloß materiale Reproduktion der kraft formalem Verdrängungsakt ersetzten früheren Gegenwart, sondern vielmehr ein aus sich heraus qualitativ gewandeltes, ein aus eigener Kraft prinzipiell erneuertes Präsens ist. Wie diese, ihr von der verselbständigten Zukunft weniger als ein memento mori drohend entgegengehaltene, denn als eine salvatorische Klausel bedrohlich vorenthaltene, abstrakte Möglichkeit eines mit neuen Interessen und Intentionen entstehenden Präsens die restaurierte bürgerliche Gegenwart radikal in Frage stellt, so natürlich auch ihre Vergangenheitsbewältigung, ihre historiographische Tätigkeit, ihre "Geschichten". In der Tat ist es eben diese, als salvatorische Klausel in der Zukunft enthaltene und wie immer abstrakte Möglichkeit eines neuen und kraft neuer historischer Interessen und systematischer Intentionen teils die entfremdete Zukunft selbst als seine eigene Perspektive sich redintegrierenden, teils in der Folge dann die desorientierte Vergangenheit als seine spezifische Funktion sich revindizierenden wirklichen Präsens und historischen Subjekts, was als ein mit der bürgerlichen Gegenwart konfligierender historiographischer Bezugspunkt zugleich den entscheidenden Anhaltspunkt dafür liefert, gleichermaßen die formale Kompetenz und die materiale Sachhaltigkeit der von der letzteren geleisteten Vergangenheitsbewältigung in Zweifel zu ziehen. In der Tat ist es eben diese abstrakte Möglichkeit einer in Zukunft toto coelo verwandelten Gegenwart, was die Vergangenheit in der oben registrierten Reserve gegenüber den historiographischen Bemühungen der restaurierten bürgerlichen Gegenwart erhält und was also die energetische Basis für die Aufrechterhaltung des oben konstatierten Vorwurfs der Ahistorizität und Asozialität bietet, der die von der Gegenwart produzierten "Geschichten" insgesamt ereilt und der, wie er die Analytische Geschichtsphilosophie zum einen nötigt, solche "Geschichten" als bloße "Gegenwartsgeschichte" zu denunzieren und eines gravierenden Mangels an "historischem Sinn" zu beschuldigen, so sie zum anderen motiviert, zu dem geschilderten pathologisch-zynischen Verfahren einer mit Hilfe von "Belegmaterial" angestrebten Reparation des Schadens ihre Zuflucht zu nehmen.

Und eben diese, in der entfremdeten Zukunft enthaltene, abstrakte Möglichkeit ist es nun aber auch, was die Analytische Geschichtsphilosophie als historiologischen Bezugs- und Reflexionspunkt prinzipiell auszuschließen beziehungsweise systematisch zu ignorieren sucht. Und zwar sucht sie sie auf der Grundlage dessen zu ignorieren, was sie zum "topischen Interesse"87 des Historikers erklärt und worin sie offenbar das entscheidende "Organisationsschema" der "narrativen Organisation" der nach ihrem Dafürhalten von der professionellen Geschichtswissenschaft erzählten "Geschichten" gewahrt. An sich zielen jene von der Analytischen Geschichtsphilosophie geltend gemachten "topischen Interessen" des Historikers auf nichts anderes ab als auf den von allem hypostatischen Wahrheitskult freien, natürlichen Relativismus einer Beziehung der Vergangenheit auf und Vermittlung beziehungsweise Bestimmung der Vergangenheit durch die Gegenwart mitsamt der ihr eigenen futuristischen Perspektive. Indes hat sich, wie gesehen, unter den Bedingungen der Interesse- und Intentionslosigkeit der restaurierten bürgerlichen Gegenwart diese futuristische Perspektive der Gegenwart entfremdet und zur Naturprozessualität und Schicksalhaftigkeit einer objektiven Dimension verselbständigt. Und es ist diese, im Verhältnis zur Gegenwart eklatante Entfremdung und Verselbständigung der futuristischen Dimension, die nun die Analytische Geschichtsphilosophie zum Anlass einer wesentlichen Einschränkung der "topischen Interessen" des Historikers nimmt. Nämlich einer Einschränkung, die die Zukunft als solche und das heißt, zur Gänze ihrer ad infinitum verselbständigten Dimensionierung aus der historiographischen Topik eliminiert und die ihr überhaupt nur in dem Maß ein "topisches Interesse" zuzuwenden, sie überhaupt nur in dem Maß als Bezugspunkt für die Vergangenheit in Betracht zu ziehen erlaubt, wie sie aufgehört hat, sie selber zu sein, und vielmehr Gegenwart geworden, aus ihrer entfremdeten Stellung heraus- und in die Gegenwart eingetreten ist. Mit der solcherart eingeschränkten Topik gewinnt die Analytische Geschichtsphilosophie auf einen Schlag zweierlei. Zum einen gelingt ihr, mit der entfremdeten futuristischen Dimension als solcher zugleich auch die in dieser enthaltene abstrakte Möglichkeit einer in Zukunft verwandelten Gegenwart aus der Welt der "topischen Interessen" des Historikers zu schaffen und also durch ihren umfänglichen futurologischen Agnostizismus eben das als historiographischen Bezugspunkt auszuschalten, was der Gegenwart die Vergangenheit zu entfremden und in bedrohlicher Gänze vorzuenthalten tendiert. Zum anderen gelingt ihr mehr noch dank der Bedingung, an die sie die Aufgabe beziehungsweise Suspendierung ihres futurologischen Agnostizismus knüpft, ausgerechnet das als ein für die Zukunft verbindliches erkenntnistheoretisches Konstitutiv zu reaffirmieren, was diese, der in ihr enthaltenen abstrakten Möglichkeit nach, gerade als realhistorisches Phänomen zu negieren und zu beseitigen droht. Damit die Zukunft historiographische Relevanz gewinnen kann, muss sie die gegenwartstranszendierende Kraft, die ihr in abstracto eignet, bereits verloren und zu einem gegenwartsimmanenten Topos, einem auf die Gegenwart bezüglichen "Ereignis"88 geworden sein. Das heißt, dank der von der Analytischen Geschichtsphilosophie wahrgenommenen "topischen Interessen" der die restaurierte bürgerliche Gegenwart begleitenden Historiographie verkehrt sich jene aus einer existentialen Bestimmtheit und realhistorischen Restposition, die jedes Mal vollständig auf dem Spiel steht, wenn die Zukunft historisch in Erscheinung tritt und ihre entfremdet geschichtspraktische Wirkung entfaltet, in eine transzendentale Bedingung und historiologische Schranke, die stets noch vollständig gegeben sein muss, damit die Zukunft historiographisch in Erscheinung treten und eine erkenntnistheoretisch verbindliche Bedeutung gewinnen kann. Der geschichtspraktischen Möglichkeit einer in Zukunft verwandelten Gegenwart, die die Vergangenheit von Grund auf anders vermittelt und neu bestimmt, setzt der Historiker Dantoscher Prägung die als "topische Interessen" kaschierte erkenntnistheoretische Strategie entgegen, nur eben die Zukunft als einen Vermittlungspunkt und Bestimmungsgrund der Vergangenheit gelten zu lassen, die zuvor, dass sie die bestehende Gegenwart als Voraussetzung respektiert und in ihren Rahmen sich fügt, durch ihren phänomenalen Eintritt in sie, durch ihr existentiales Werden zum gegenwartskonformen "Ereignis" unter Beweis gestellt hat. Das Bedrohliche an jener der Gegenwart entfremdeten Zukunft, nämlich dies, dass sie aufhören könnte, ein in abstrakter Negativität die Gegenwart ebenso diskontinuierlich fortsetzender wie unvermittelt reaffirmierender Naturprozess zu sein, dass sie am Ende zum Topos oder vielmehr Utopos einer die restaurierte bürgerliche Gegenwart als förmlicher Subjektwechsel ereilenden grundlegenden Verwandlung und wesentlichen Erneuerung werden könnte, wird von der Analytischen Geschichtsphilosophie durch eine Beschränkung der historiographischen Blickrichtung und nämlich dadurch aus der Welt geschafft, dass für den Historiker die Zukunft nur sub specie dessen soll topologisch in Erscheinung treten und nur sub conditione dessen soll epistemologisch Geltung gewinnen können, was sie gerade doch als historiologischen Topos zu vernichten und als Erkenntnissubjekt außer Kraft zu setzen droht.

Für diese ihre, mit Hilfe historiographischer Spielregeln vollbrachte topologische Absicherung und epistemologische Bestätigung zahlt nun allerdings die restaurierte bürgerliche Gegenwart keinen geringen Preis. In der Tat verwandelt sie unter dem Druck und Eindruck der ihr im "topischen Interesse" der gegenwärtigen Historiographie zugemuteten Funktion einer epistemologischen Zukunftsbewältigung ihr Gesicht. In dem Maß, wie sie der entfremdeten Zukunft gegenüber die Rolle eines historiologischen Prüfsteins und Katalysators, eines transzendentalen Kriteriums, wahrnehmen muss, tendiert sie dazu, unter Preisgabe jeden Anscheins von Subjektcharakter, jeden Rests von historischer Selbstmächtigkeit, in dieser Rolle aufzugehen. Der futuristischen Dimension als einer ihr eigenen Perspektive beraubt und dazu verurteilt, das, was die entfremdete Zukunft an entfremdeten Fakten produziert und nämlich an jenseits der Gegenwart und gegen sie gezeitigten "Ereignissen" bringt, unablässig in sich hineinzufressen, unaufhörlich in ihren Bann zu schlagen, um es historisch unschädlich zu machen oder vielmehr in seiner historischen Unschädlichkeit unter Beweis zu stellen, legt die restaurierte bürgerliche Gegenwart endgültig den Charakter eines als intentionaler Zusammenhang fungierenden Agenten historischer Prozesse ab und verwandelt sich in einen als transzendentales Behältnis figurierenden "Kasten"89 zur Aufbewahrung vergangener "Ereignisse", büßt sie endgültig die Bedeutung eines mit eigener Perspektive handelnden historischen Subjekts ein und wird zu einem mit fremder Duldung operierenden Buchhalter der Geschichte. Sie wird zu einem historiographischen Beschließer, dessen transzendentale Beschlussakte, dessen unaufhörliche Verwaltungsaktivitäten nur eben darin bestehen, die aus der Transzendenz einer entfremdeten Zukunft in die Gegenwart eintretenden "Ereignisse" der Immanenz einer verdinglichten Vergangenheit zuzuschlagen und für deren objektivistische Anordnung "topisch" nutzbar zu machen. Weil das, was aus der entfremdeten Zukunft in die Gegenwart eintritt, in keinem perspektivisch irgend bestimmten – und nämlich weder als projektspezifisch aktiv, noch als dimensionseigentümlich relativ bestimmbaren – Verhältnis zur letzteren steht, tritt es auch eigentlich gar nicht in ihr ein, sondern wechselt unmittelbar in jenen Aggregatszustand fixer Ereignishaftigkeit über, findet sich unmittelbar in jenen Zusammenhang eines der Historiographie der Gegenwart "topisch" verfügbaren Geschehenseins gebannt, als dessen transzendentale Schranke, als dessen nicht sowohl haltgebender, sondern vielmehr Einhalt gebietender Bannkreis die Gegenwart nurmehr und ausschließlich figuriert. Eben dies, dass die restaurierte bürgerliche Gegenwart aller historischen Subjektivität und Synthesisfunktion beraubt und zur abstrakten Umfangsbestimmung, zum katalytischen Transzendental verflüchtigt, aus einem Platzhalter und Verhandlungsführer des historischen Prozesses zum Buchhalter und Nachlassverwalter vergangener Zukunft degradiert ist, verleiht den "Geschichten" ihrer Historiker nun jenen, von der Analytischen Geschichtsphilosophie wahrgenommenen und zur "topischen" Bestimmtheit überhaupt jeder Geschichtsschreibung erklärten, eigentümlich objektivistischen Zug, der, wie er Geschehenes immer nur auf Geschehenes, Ereignisse stets nur auf Ereignisse, Vergangenes strikt nur auf Vergangenes zu beziehen, "topisch" nötigt, die Gegenwart selber als Bezugspunkt ausschließt und eliminiert. Auf die ebenso marginale wie transzendentale Rolle einer historiographischen Buchhaltung, eines voluminösen Kulturfahrplans, eines Kronos, dem die Chronologie, die er unablässig in sich hineinschlingt, ein sachlich nicht weniger als etymologisch fremder und gleichgültiger Inhalt bleibt, reduziert, findet sich so die restaurierte bürgerliche Gegenwart durch die "Geschichten" ihrer Historiker, der Form und Topik nach, beim Wort eben der ahistorisch diskontinuierlichen Interesselosigkeit und asozial unvermittelten Intentionslosigkeit genommen, die, ihrer Funktion und Rhetorik nach, jene "Geschichten" gerade zu überspielen und zu vertuschen dienen.

Der Gewinn, den die restaurierte bürgerliche Gegenwart von den durch die Analytische Geschichtsphilosophie den Historikern angesonnenen "topischen" Manipulationen offenbar hat, ist ihre Behauptung und Reaffirmation, wenn schon nicht in der Gestalt und Kontinuität eines im Angesicht der entfremdeten Zukunft sich historiologisch beweisenden historischen Subjekts, so jedenfalls doch in der Figur und Identität eines mit dem Rücken zur entfremdeten Zukunft sich epistemologisch bewährenden historiographischen Transzendentals. Wie jene "topischen" Manipulationen die Gegenwart selber aus einem defekten Organ zur Durchsetzung von historisch wirksamen Interessen in einen perfekten "Kasten" zur Aufbewahrung von historiographisch einschlägigen "Ereignissen" uminterpretieren, so funktionieren sie die entfremdete Zukunft aus einer bedrohlich unberechenbaren, verselbständigten Potenz in einen zuverlässig systematisierbaren, abhängigen Faktor um. Durch jenen "topischen" Trick verwandelt sich die Zukunft aus einer historischen Schicksalsmacht, die der abstrakten Möglichkeit nach die restaurierte bürgerliche Gegenwart mit dem Los einer sie als förmlicher Subjektwechsel ereilenden grundlegenden Verwandlung und wesentlichen Erneuerung bedroht, in einen historiographischen Datenlieferanten, der per definitionem der epistemologisch verfügten Bedingung der Möglichkeit des Eintretens und Erscheinens der von ihm gelieferten Daten je schon im Rahmen der als transzendentale Voraussetzung figurierenden restaurierten bürgerlichen Gegenwart sich hält. Indes bleibt der so von der Analytischen Geschichtsphilosophie der Gegenwart verschaffte Kontinuitätserfolg und Identitätsgewinn doch eher wohl ein – der "topischen" Manipulation, der er sich verdankt, entsprechend – rhetorischer. Mögen nach dem Willen der Analytischen Geschichtsphilosophie die Historiker der restaurierten bürgerlichen Gegenwart mit Hilfe ihrer "topischen Interessen" und der daraus resultierenden epistemologischen Beschränkung, die abstrakte Möglichkeit einer in der entfremdeten Zukunft verwandelten Gegenwart, die abstrakte Möglichkeit eines historischen Subjektwechsels, auch noch so entschlossen sein, nicht vorzusehen! Was mehr tun sie damit, als von eben dem abzusehen, was, wenn es eintritt, alle ihre geschichtsanalytischen Maßnahmen und epistemologischen Vorkehrungen realgeschichtlich durchkreuzen und ad absurdum einer von der Wissenschaft – auf den Borg der Hoffnung, dass sich Zukunft weiterhin in "Ereignisse" verwandeln und der bestehenden Gegenwart einfügen möge – gegen die Erkenntnis aufgebotenen Magie des Ignorierens beziehungsweise Strategie des Tabuisierens führen muss? Nur im Verstand dieses, von der Analytischen Geschichtsphilosophie ihnen aufgetragenen, wissenschaftlich organisierten Abwehrzaubers gegen die in der entfremdeten Zukunft lauernden Gefahren lässt sich am Ende den Historikern nachsagen, "Geschichte (werde) von ihnen gemacht": in topisch entstellender Stellvertretung des fehlenden historischen Subjekts und als epistemologisches Apotropäon gegen die abwesende Geschichte selbst.

Fußnoten

... Interesse"87
Ebd., S. 183.
... "Ereignis"88
Ebd., S. 236ff.
... "Kasten"89
Auch wenn Danto sein Gleichnis von der "Vergangenheit als einer Art riesigem Behälter, einem Kasten" (ebd., S. 237) nur einführt, um es als unzulängliches Beschreibungsmodell wieder zu verwerfen – die Einführung des Modells bleibt nichtsdestoweniger symptomatisch. Symptomatisch nicht nur durch die Rolle, die die Zukunft in dem Modell spielt, sondern symptomatisch auch und vor allem durch die Abwesenheit der Gegenwart. Am Ende erweist sich nämlich als das Unzulängliche an dem Kastenmodell nur eben dies, dass es den "Kasten" als ein starr ontologisches Selbstverhältnis der perennierenden Vergangenheit, statt als jene lebendig transzendentale Funktion konzipiert, als die nach dem Willen der Analytischen Geschichtsphilosophie die permanente Gegenwart zur Vergangenheit sich verhalten soll.