Vorwort

Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die Geschichtswissenschaft, so, wie sie der akademische Betrieb der bürgerlichen Gesellschaft im Verlauf der vergangenen beiden Jahrhunderte hervorgebracht und ausgebildet hat: als eine methodisch geübte Disziplin historischen Erkennens. Mit diesem ihrem Anspruch, methodisch geübte Disziplin historischen Erkennens zu sein, hat die Geschichtswissenschaft paradigmatische Bedeutung für praktisch alle Geisteswissenschaften gewonnen, ist sie zur Leitdisziplin nicht nur der explizit philologisch-historischen, sondern auch der zunehmend historisch gewendeten philosophisch-systematischen Fachrichtungen des geisteswissenschaftlichen Komplexes geworden. Eine Analyse und Kritik der Disziplin historischen Erkennens ist deshalb nolens volens zugleich kritische Analyse des Erkennens in den Geisteswissenschaften überhaupt.

Dabei geht es der hier vorgetragenen Analyse der Disziplin historischen Erkennens nicht um das historische Erkennen mit seinen inhaltlichen Bestimmungen, seinen objektiven Vorstellungen, sondern um die Disziplin selbst mit ihren formalen Bedingungen, ihren methodischen Voraussetzungen. Das heißt, es geht der Analyse nicht um den ausgebildeten Begriff, den die Geschichtswissenschaft von ihrem Gegenstand sich macht, sondern um die grundlegenden Kategorien, die diesen von der Geschichtswissenschaft ausgebildeten Begriff determinieren, nicht um die phänomenologische Struktur des mit wissenschaftlicher Disziplin Erkannten, sondern um die epistemologische Konstitution des wissenschaftlich disziplinierten Erkennens selbst. Eben deshalb, weil die Analyse, statt auf den objektiv-begrifflichen Charakter des Erkannten, auf die methodisch-kategorialen Bedingungen des Erkennens zielt, ist in der vorliegenden Arbeit auch nicht vom Historismus und dem Problem historischer Gesetze, sondern ausschließlich von Relativismus und der Suche nach historischer Wahrheit, nicht vom Gegensatz zwischen ideographischem Verstehen und nomothetischem Erklären, sondern ausschließlich vom Widerspruch zwischen der Erfahrung historiographischer Scheinproduktion und dem Bemühen um die Reproduktion historischen Seins die Rede.

Insofern die Analyse nach den Bedingungen der Möglichkeit der akademischen Disziplin historischen Erkennens, das heißt, nach eben dem forscht, was als zugleich die innere Logik und die kategoriale Metaphysik der hoch- und spätbürgerlichen Geschichtswissenschaft deren verlautbartem Selbstverständnis und erklärten Objektbegriffen je schon vorausgeht und stets noch zugrunde liegt, hat sie transzendentalphilosophischen Charakter. Dass sie dennoch auf keine Erkenntnistheorie traditionellen Zuschnitts hinausläuft, hat darin seinen Grund, dass in ihrem Fortgang das Transzendentale vielmehr als Gesellschaftliches sich herausstellt, das Kategoriale vielmehr als Historisches sich konkretisiert. Es ist der Anspruch der vorliegenden Arbeit, an einem erkenntnistheoretisch zentralen Punkt moderner Bewusstseinsbildung, dem Punkt der sich konstituierenden historischen Erkenntnis, die spezifisch-wissenschaftliche Konstitution als Verarbeitungsform historisch-gesellschaftlicher Konflikte, die kategorialen Topoi als Reflexionsprodukt realer Positionen nachzuweisen, mithin aber Transzendentalphilosophie beim Wort der nach Maßgabe einer Dialektik von Treue und Verrat in ihr aufgehobenen und verkappten Gesellschaftstheorie zu nehmen. Dies, dass die Geschichtswissenschaft – als paradigmatische Pars pro toto der Geisteswissenschaften – in ihren Grundkategorien und methodischen Prinzipien zentralen historischen Prozessen und entscheidenden gesellschaftlichen Konflikten der Gegenwart Rechnung trägt und in der Tat ebenso formell Anerkennung zollt wie materiell die Spitze abbricht, macht es erforderlich, die formell als eine transzendentalphilosophische Epistemologie vorgetragene Kritik der Geschichtswissenschaft ebenso wohl und vielmehr als geschichtsphilosophische Gesellschaftstheorie sich materialisieren zu lassen. Und zugleich bildet dies, dass die Geschichtswissenschaft jenen historischen Prozessen und gesellschaftlichen Konflikten der Gegenwart, bei allem Verrat in der materialen Sache, in aller Reflexionsform immerhin noch die Treue hält, die Rechtfertigung dafür, sie – wie die an ihr sich das Beispiel nehmende Geisteswissenschaft überhaupt – transzendentalkritisch ernst zu nehmen, statt mit ihr ideologiekritisch kurzen Prozess zu machen. Eben dies Moment eines bei allem inhaltlich zielstrebigen Verrat doch aber unwillkürlich reflexiven Festhaltens am historischen Interessenpunkt und an der gesellschaftlichen Intentionalität, und nicht die Fixierung an ein ebenso hypostatisches wie abstraktes Objektivitäts- und Wahrheitsideal, ist es, was auch noch die rationalisierendste und formalistischste Wissenschaft von Ideologie unterscheidet.

Der Versuch, die Transzendentalkritik des historischen Erkennens zugleich und wesentlich als gesellschaftstheoretisches Unternehmen zu begreifen und zu realisieren, impliziert eine strikte Rückbeziehung der für die Disziplin historischen Erkennens charakteristischen Grundkategorien und methodischen Prinzipien auf den historischen Ort ihres Erscheinens. In der Tat ist es ein zentrales, und keineswegs nur als Heuristikum zu verstehendes Prinzip der vorliegenden Arbeit, zeitübergreifend generalisierende Aussagen der Geschichtswissenschaft unter den Verdacht spezifisch situationsbedingter Stellungnahmen zu stellen und nach Möglichkeit also allgemeine geschichtswissenschaftliche Grundbestimmungen durch das Nadelöhr ihres besonderen historischen Grunds zu treiben. Mit diesem Prinzip folgt die Arbeit dem Beispiel einer Hermeneutik, deren – vorzugsweise im psychoanalytischen Umgang mit Symptomen bewährte – Verfahrensweise es ist, Rationalisierungen durch die Konfrontation mit den persönlichen Umständen, denen sie entspringen, zu entlarven und durchzuarbeiten.

Der Versuch, die Disziplin historischen Erkennens, paradigmatisch für die Geisteswissenschaft überhaupt, ebenso sehr als ein in eigener Regie sich formierendes szientifisch-kritisches Reflexivum ernst wie als einen den historisch-programmatischen Prozessen und politisch-ökonomischen Konflikten der bürgerlichen Gegenwart entsprungenen apotropäisch-mimetischen Reflex beim Wort zu nehmen, führt zu einer Darstellungsweise, die zwischen systematischem Konstruieren und historischem Rekonstruieren changiert. Eingespannt in die seiner Reflexionsform eigentümliche innere Konsequenz, die Anspruch auf eine systematische Darbietung erhebt, ist das historische Erkennen doch zugleich wesentlich und bis in die Reflexionsform selbst hinein bestimmt durch die Kontingenz des realgeschichtlichen Prozesses, die es in der symptomatischen Form eines für die Reflexion ineins konstitutiven Grunds und störfaktorellen Moments realisiert. Eine Darstellung, die unter diesen Umständen sei's systematische Geschlossenheit, sei's historische Direktheit prätendierte, wäre a priori unter den Verdacht eines Schwindelunternehmens zu stellen. Was die vorliegende Arbeit durch ihr Changieren zwischen den Extremen systematischer Stringenz und historischer Treue an Homogenität und Durchsichtigkeit einbüßt, das gewinnt sie hoffentlich an Bestimmtheit des Begriffs und realer Einsicht zurück.