Erfahrungswissenschaft und Wissenschaftstheorie2

Wissenschaftstheorie – allgemeiner: Erkenntnistheorie – lässt sich weder als eine zusätzliche Sparte noch als ein äußerlicher Moderator des seit dem 17. Jahrhunderts sich entwickelnden, modernen arbeitsteiligen Wissenschaftsbetriebs begreifen. Sie ist vielmehr von Anfang an eine immanente Begleiterscheinung und ein unmittelbares Reflexionsprodukt der Entwicklung des bürgerlichen Erfahrungsprozesses und der aus ihm sich organisierenden Erfahrungswissenschaft selbst. Und zwar ist sie dies als Resultat eines die bürgerliche Theoriebildung kontinuierlich heimsuchenden, abgründigen Zweifels an der Sachhaltigkeit, Verbindlichkeit und Repräsentativität eben jenes Erfahrungsprozesses und seiner Ergebnisse. Dieser abgründige Selbstzweifel ist dem zur Wissenschaft sich organisierenden, bürgerlichen Erfahrungsprozess so wesentlich, dass er geradezu als sein Grundcharakter und als sein entscheidendes methodisches Prinzip erscheint – egal, ob die sich organisierende Erfahrungswissenschaft als Rationalismus oder als Empirismus sich definiert. Eine Aufzählung von Theoriebildungsversuchen des 17. und 18. Jahrhunderts dokumentiert das sehr eindrucksvoll: Hobbes, Descartes, Locke, Leibniz, Hume, Kant – sie alle kommen in dem zentralen Anspruch überein, die Erfahrungswissenschaften durch die als Epistemologie (Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie) vorausgeschickte Frage nach den Grundlagen und Bedingungen des Erkenntnisprozesses vorweg abzusichern und zu fundieren.

Wie kommt es zu dieser, das Erkennen als Skepsis heimsuchenden "Besorgnis, in Irrtum zu geraten" (Hegel)? Wie kommt es zu dieser zweifelsüchtigen Prüfung der Fundamente und Determinationen von Erfahrung? Die Antwort darauf macht einen kurzen Rekurs auf die Anfänge der bürgerlichen Erfahrungswissenschaft nötig, für die beispielhaft Francis Bacon einsteht. Diese Anfänge sind nun paradoxerweise durch eine außerordentliche Unmittelbarkeit und fast schon naive Positivität des Erkenntnisanspruchs ausgezeichnet. Und zwar eines Erkenntnisanspruchs, der im Anschluss an die Naturwissenschaften Erkenntnis unter dem Titel der Erfahrung neu orientieren und auf eine gleichermaßen theoretisch und praktisch neue Grundlage stellen will. Die neue Orientierung erscheint als Hinwendung zu einer Außenwelt, die als in sich gediegener und von immanenten Gesetzen beherrschter Erscheinungszusammenhang gewahrt wird. Die neue theoretische Grundlage ist methodologisch das Prinzip der Induktion, das heißt der Herleitung der Gesetze der Erscheinungswelt aus dieser selbst durch die experimentell beobachtende Vernunft. Bacon macht der vorangehenden scholastischen Philosophie ihren latenten oder manifesten Platonismus zum Vorwurf. Das heißt er wirft ihr ein Ideen- und Urbilderkonzept vor, das die Essenz der phänomenalen Wirklichkeit in der Form von Generalia, von Wesens- und Allgemeinbegriffen, wenn nicht überhaupt im Denken voraussetzt, so zumindest dem Denken unmittelbar und intuitiv zugänglich erscheinen lässt. Er wirft der scholastischen Philosophie vor, dass sie auf diese Weise die phänomenale Welt zur bloßen Ausführungsbestimmung und zum materialisierten Exemplar eines Seins erklärt, das gleichzeitig äußerste Objektivität beansprucht und wesentlich Gedankending ist. Mit dieser Voreingenommenheit des Denkens als des Ortes des essentiell wahren Seins habe sich die Wissenschaft, meint Bacon, den Weg zu einer effektiven Erforschung und verallgemeinernden Beobachtung der Phänomene in ihrer eigentümlichen Prozessualität versperrt. Der von Bacon im Namen des Induktionsprinzips propagierte Kampf gegen Idole und Vorurteile ist insofern Verwerfung eines idealiter objektiv gedachten und im Denken zeitlos vorausgesetzten Wesensbegriffs und Hinwendung auf ein im Phänomen realiter objektiv angenommenes Allgemeines.

Mit diesem Programm scheint einer systematischen Erforschung der Erscheinungswelt durch einen einheitlichen Prozess der technologischen Praxis und der experimentellen Theorie und einer kontinuierlichen Anhäufung nützlicher Erfahrungen und Informationen der Weg geebnet. Aber der Schein trügt. Schon bei Locke, der wie kein anderer die Erscheinungswelt zur ausschließlichen Quelle von Erfahrung erklärt, taucht im Hintergrund der Erscheinungswelt eine Macht auf, die dadurch, dass sie als eine den Erscheinungen zugrunde liegende zugleich außerhalb ihrer bleibt, diese ihrer fraglosen Objektivität und Realität zu berauben droht. Ich meine die Macht, die Locke mit seinem Begriff einer hinter den Erscheinungen verborgenen und unserer Wahrnehmung prinzipiell unzugänglichen Substanz benennt. Diese, die Erscheinungen gebende, aber zugleich als erscheinungstranszendent der Erfahrung angeblich prinzipiell entzogene Substanz, das spätere Kantische Ding-an-sich, ist es, was den Lockeschen Empirismus quasi über Nacht in den Humeschen Skeptizismus verwandelt. Das Problem, das sich mit dem Lockeschen Substanzbegriff stellt und das Hume nur herauszuarbeiten braucht, ist das der Zuverlässigkeit, Verbindlichkeit und Repräsentativität der die Erfahrung begründenden Erscheinungswelt als solcher. Mag nämlich auch, argumentiert Hume, der Erkenntniszusammenhang, der sich zur Wissenschaft organisiert, Resultat eines praktischen Umgangs mit und einer experimentellen Beobachtung von Daten und Zusammenhängen der gegebenen Erscheinungswelt sein, so ist damit doch keineswegs schon gewährleistet, dass diese beobachteten und in der Praxis zunächst bewährten die nachweisbar und dauerhaft wirklichen sind?

Eine solche skeptische Fragestellung ist in der Tat nur möglich unter der Voraussetzung jener, im Lockeschen Substanzbegriff bereits angelegten und im Kantischen Ding-an-sich perfekten Trennung von gegebener, für den Erfahrungszusammenhang konstitutiver Erscheinungswelt einerseits und die Erscheinungswelt gebender, selber der Erfahrung entzogener, produktiver Substanz andererseits. Unter der Voraussetzung dieser Trennung aber droht nun eben der Erscheinungszusammenhang, der alleiniger Vermittler und Lieferant nicht nur der Inhalte, sondern vor allem auch der Formen einer diskursiven und kontinuierlichen Erfahrung sein sollte, entweder zum Ausgangspunkt eines kompletten Wahnsystems oder aber zum Vehikel ständiger Fehlinformationen und Täuschungen zu werden. Das heißt für den auf die Erscheinungswelt angewiesenen bürgerlichen Erfahrungszusammenhang tun sich zwei gleichermaßen verderbliche Perspektiven auf: entweder die Erscheinungen sind bloße Erscheinungen, ein oberflächlicher Schein, hinter dem die ihn erzeugende, substantielle Wirklichkeit, indifferent gegen alle Erfahrung, sich verbirgt; oder aber die Erscheinungen sind zwar Erscheinungen, Ausdruck jener substantiellen Wirklichkeit, aber so, dass sie damit der Willkür oder der Eigengesetzlichkeit dieses ihres unbekannten und als solcher der Erfahrung entzogenen Produktionsquells überantwortet sind. Stichwortartig gesagt: Unkontrollierbare Scheinhaftigkeit und unkalkulierbare Veränderlichkeit stellen die Erscheinungswelt als vermeintliche Grundlage einer durchgängig gesicherten und profitablen Akkumulation von Erfahrung in Frage. Dementsprechend entwickelt sich die Skepsis in zwei, von den frühbürgerlichen Erfahrungstheoretikern selbst nur undeutlich unterschiedene Richtungen. Entweder sie argumentiert gewissermaßen metaphysisch: dann stellt sie die Erscheinungssphäre unter den Verdacht, bloßer Schein zu sein und bestreitet jeden nachweisbaren Zusammenhang zwischen den den Erscheinungen zugrunde liegenden objektiven Intentionen und den aus den Erscheinungen herausgelesenen Erfahrungen. Oder aber sie argumentiert eher historisch: dann akzeptiert sie die aus den Erscheinungen herausgelesenen Erfahrungen als für den gegebenen Fall einschlägige, bestreitet aber angesichts einer in ihrer Entwicklung unvorhersehbaren substantiellen Produktivität die Allgemeingültigkeit und für alle Zukunft notwendige Objektivität dieser Erfahrungen.

Was ist nun aber jene substantielle Macht im Hintergrund, die als eine ebenso unberechenbare wie unergründliche die durch sie gegebene Erscheinungswelt als eine vermeintlich solide Grundlage der bürgerlichen Erfahrungswissenschaft in Frage stellt? Was stellt sie dar, was drückt sich in ihr aus? Auf diese Frage bleiben uns die frühbürgerlichen Erfahrungstheoretiker die Antwort schuldig. Für sie bleibt jenes Ding-an-sich in der Anonymität einer theologisch gefärbten Naturmacht. Eine anonyme Macht allerdings, die in ihrer Unberechenbarkeit immerhin ernst genug genommen wird, um der durch sie als Erfahrungsgrundlage gegebenen Erscheinungswelt gegenüber Skepsis aufkommen zu lassen und um zur Beschwichtigung oder Überwindung dieser Skepsis die Theorie herauszufordern, um die es geht, nämlich die Wissenschaftstheorie.

Was ist nach Kant, dem letzten und bedeutendsten Vertreter der frühbürgerlichen Erfahrungstheoretiker, die Aufgabe einer Wissenschaftstheorie? Sie soll die Voraussetzungen, die Bedingungen der Möglichkeit, eines Erscheinungszusammenhangs ausfindig machen, der genug Kontinuität, genug innere Konsistenz hat, um einen durch Objektivität, Allgemeinheit und Notwendigkeit der Ergebnisse ausgezeichneten, regelmäßigen und diskursiven Erfahrungsprozess zu gewährleisten. Zugespitzt gesagt: Wissenschaftstheorie soll das Objekt der bürgerlichen Erfahrungswissenschaft, die Erscheinungswelt, so begründen und definieren, dass dies Objekt, unabhängig von der Frage nach seiner metaphysischen Wahrheit und Substantialität, eine hinreichende funktionelle Diskursivität, prospektive Gültigkeit und Effektivität der ihm entspringenden Erfahrung zu garantieren imstande ist. Ich kann hier nicht auf Kants ebenso großartigen wie ohnmächtigen Versuch einer Lösung dieser Aufgabe und auf die gesellschaftstheoretischen Implikationen dieses Lösungsversuchs eingehen. Eins wird jedenfalls durch die Aufgabenstellung bereits deutlich: Im Zentrum dieser Wissenschaftstheorie steht das Interesse an einer Überwindung der Skepsis, die ich zuvor die historische genannt habe: der Skepsis also, die sich aus der Furcht vor der unkalkulierbaren Veränderlichkeit der nach der Seite ihres Produktionsquells der Erfahrung entzogenen, gegebenen Erscheinungen speist. Die andere, von mir metaphysisch genannte Skepsis, die aus der Angst vor einer unkontrollierbaren Scheinhaftigkeit der Erscheinungen herrührt, bleibt demgegenüber ein sekundäres Motiv der Herausbildung von Wissenschaftstheorie. Sie ist zwar da, aber nicht akut.

Eben das aber ändert sich direkt nach Kant, gleich zu Anfang des 19. Jahrhunderts. Die in der metaphysischen Skepsis resultierende Angst vor einer unkontrollierbaren Scheinhaftigkeit der nach der Seite der Intentionen ihrer Hervorbringung undurchschauten Erscheinungswelt wird, behaupte ich, plötzlich die herrschende Bestimmung. Einer derartigen Behauptung scheint die Entstehung des Positivismus zu eben dieser Zeit einigermaßen zu widerstreiten. Der von den Ideologen der späten Revolutionszeit und von Auguste Comte ins Leben gerufene Positivismus mit seinem emphatischen Glauben an den fait positif (die positive Tatsache) scheint ja die Skepsis überhaupt aus dem Felde zu schlagen und damit auch Wissenschaftstheorie als solche überflüssig zu machen. Er scheint ja gerade Ausdruck der Überzeugung einer vollkommenen Identität von Erscheinung und Ding-an-sich. Aber lassen wir uns nicht täuschen! Der Positivismus mit seiner gewaltsam unmittelbaren Resubstantialisierung und Wiederaufwertung der Erscheinungswelt lässt sich, wie ich meine, eher wohl als ideologisch motivierter Versuch einer Abwehr und Verdrängung eben der alles andere als positiven Tatsachen verstehen, denen die Skepsis sich verdankt, die ich die metaphysische genannt habe und von der ich behaupte, dass sie die nunmehr herrschende Bestimmung der bürgerlichen Erfahrungswissenschaft bildet. Ein Indiz dafür, dass es mit der vom Positivismus proklamierten neuen Positivität der Erscheinungswelt nicht gar so weit her ist, scheint mir die Tatsache, dass, ungeachtet allen formellen Verzichts auf Wissenschaftstheorie überhaupt, der Positivismus praktisch von Anfang an und in wachsendem Maße auf ein unheiliges Bündnis mit den Fortsetzern und Verwaltern der von Hume und Kant überlieferten Wissenschaftstheorie sich einlässt. Auch er kann offenbar auf eine förmliche Absicherung und Begründung der Kontinuität und inneren Konsistenz seiner "positiven Tatsachen" nicht völlig verzichten. Dabei findet nun allerdings eine merkwürdige Veränderung der Aufgabenstellung dieser übernommenen Wissenschaftstheorie statt. Wenn es bei Hume und Kant darum ging, die Erscheinungswelt so in sich zu begründen, dass sie eine regelmäßige und haltbare Akkumulation von wissenschaftlicher Erfahrung ermöglicht, dann scheint es der im Zusammenhang mit dem Positivismus operierenden neukantianischen Wissenschaftstheorie ebenso wie etwa der im Dienste des Positivismus stehenden Wissenschaftslogik eines Popper oder Topitsch zunehmend darum zu gehen, die Erscheinungswelt so zu definieren, dass sie der aus ihr akkumulierten Erfahrung sich immer neu fügt und nicht widerspricht.

Dieses Zusammentreffen von Positivismus und Nominalismus scheint mir nun aber ein Indiz dafür, dass der Positivismus wesentlich als ein Versuch der Abwehr und Verdrängung jener metaphysischen Skepsis zu verstehen ist, die, meiner Behauptung nach, die bürgerliche Erfahrungswissenschaft seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts heimsucht. Lassen Sie mich zu dieser metaphysischen Skepsis zurückkehren. Sie resultiert, wie ich sagte, aus der Besorgnis einer unkontrollierbaren Scheinhaftigkeit der Erscheinungswelt und bezieht sich auf die der Erfahrung ebenso sehr entzogenen wie offenbar verdächtig gewordenen Intentionen der Macht, die die Erscheinungen hervorbringt und gibt. Auch diese Skepsis verlangt zu ihrer Überwindung nach einer Wissenschaftstheorie, das heißt nach einer Theorie, die imstande ist, die Bedingungen einer dennoch möglichen Sachhaltigkeit, Repräsentativität und Verbindlichkeit von Erfahrung ausfindig zu machen. Aber es liegt auf der Hand, dass diese neue Wissenschaftstheorie sich nicht mehr damit begnügen kann, die Bedingungen der Möglichkeit bloß der inneren Kontinuität der den Erfahrungszusammenhang stiftenden Erscheinungswelt auszuforschen. Schließlich steht ja nicht mehr nur die Kontinuität, sondern die Substantialität der Erscheinungswelt in Frage und steht also nicht mehr nur die zukünftige Wirksamkeit, sondern die prinzipielle Wirklichkeit der aus den Erscheinungen gewonnenen Erfahrungen auf dem Spiel. Daraus folgt: Wissenschaftstheorie muss, wenn sie die metaphysisch genannte Skepsis überwinden will, das zum Objekt der Erfahrung machen, was Erfahrung dadurch zu vereiteln droht, dass es als eine der Erzeugung von bloßem Schein verdächtige Macht im Hintergrund der Erscheinungswelt der Erfahrung sich entzieht. Wissenschaftstheorie kann nicht mehr nur die Bedingungen der Möglichkeit eines Erscheinungszusammenhangs ausklügeln, der potentiell der Gefahr einer unkalkulierbaren Veränderlichkeit ausgesetzt ist und an dessen bruchloser Kontinuität demgegenüber die Erfahrungswissenschaft ein planerisches Interesse hat. Wissenschaftstheorie muss vielmehr die Bedingungen der Wirklichkeit eines Erscheinungszusammenhangs aufdecken, der aktuell dem Verdacht einer unkontrollierbaren Scheinhaftigkeit unterliegt und den in seiner Wirklichkeit zu realisieren, die Erfahrungswissenschaft, soweit sie nicht vornehmlich ideologische Funktionen erfüllt, ein existentielles Interesse haben muss. Kurz: Wissenschaftstheorie kann nicht mehr nur die Bedingungen der Möglichkeit künftiger Erfahrung, sie muss die Bedingungen der Wirklichkeit einer drohenden Erfahrungslosigkeit ins Auge fassen. Sie kann nicht mehr bloß transzendentale Meta-Wissenschaft, sie muss materiale Wissenschaft vom Ding-an-sich sein. Wissenschaft eines Ding-an-sich, das die Erscheinungen nicht mehr nur als die Außenseite und Oberfläche seiner im übrigen unerforschlichen und vielleicht auch gar nicht erforschenswerten Intentionen hervorbringt, sondern das, anders als bei Kant, im Verdacht steht, die Erscheinungen geradezu zum Zweck einer Verhüllung und Verheimlichung seiner Intentionen und wirklichen Bewegungen zu produzieren.

Wissenschaft vom Ding-an-sich: das ist seit Hegels Einleitung in die "Phänomenologie des Geistes" die Parole der Wissenschaftstheorie, die meines Erachtens diesen Namen verdient. Aber kann es diese Wissenschaft geben? Muss sie nicht durchaus an ihrem paradoxen Anspruch scheitern, Erfahrung eines definitionsgemäß der Erfahrung Entzogenen sein zu wollen? Wo soll die Wissenschaftstheorie das Ding-an-sich überhaupt finden? Die paradoxe Antwort liegt auf der Hand: Natürlich da, wo alle bürgerliche Erfahrungswissenschaft ihr verbindlich unmittelbares Objekt hat – in den Erscheinungen. Und wie soll sie es ausgerechnet in diesen, mittlerweile des bloßen Scheins verdächtigen Erscheinungen erkennen? Die Antwort, die, wenn sie nicht bloß paradox sein will, eine spezifisch neue Erkenntnismethode implizieren muss, wird etwa so lauten müssen: Wissenschaftstheorie muss den Schein als notwendiges Erzeugnis dessen, was ihn produziert, ernst nehmen, sie muss ihn als die verbindliche Folge eines Grunds begreifen, der in sich selber Grund hat, so und nicht anders hervorzutreten, kurz, sie muss die Erscheinung als Symptom realisieren.

Lassen Sie mich hier die Konstruktion abbrechen und Ihnen an zwei hervorstechenden Beispielen die Konsequenzen dieses Verfahrens benennen beziehungsweise in Erinnerung rufen. Schließlich gibt es diese Wissenschaftstheorie, wir brauchen sie also nicht erst zu konstruieren, und zu dem Versuch ihrer kritischen Rekonstruktion fehlt ohnehin die Zeit.

Beispiel 1: Marx gründet seine "Kritik der Politischen Ökonomie" auf einen Erscheinungszusammenhang, der in der Tat, wie wir uns durch den Augenschein überzeugen können, einen oder den zentralen Aspekt der Erscheinungswelt unserer Gesellschaften bildet: die "ungeheure Warensammlung", als die, wie Marx sagt, "der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht", erscheint. Dieser, durch die Ware gebildete Erscheinungszusammenhang präsentiert sich mit der Selbstverständlichkeit und Gediegenheit unmittelbarer Faktizität. Er ist in dieser seiner Positivität Grundlage und Objekt einer bedeutenden Erfahrungswissenschaft, nämlich der Politischen Ökonomie, "welche sich mit der Darstellung der vielfachen, durch Vergesellschaftung, Tausch und Arbeitsteilung hervorgerufenen Verkettung der Verkehrsinteressen, des wechselseitigen Zusammenhangs und der Abhängigkeit der verschiedenen Wirtschaften voneinander sowie der auf Grund derselben zu beobachtenden Gesetzmäßigkeiten und Regelmäßigkeiten befasst, um auf Grund derselben einen Anhalt für Gestaltung der praktischen Wirtschaft, insbesondere aber der öffentlichen Wirtschaft, bieten zu können" (Meyers 1890). Ein schönes Programm für eine Erfahrungswissenschaft, das nur leider einen Haken hat: es setzt eine Gediegenheit und Substantialität jenes Erscheinungszusammenhangs voraus, die dieser tatsächlich nicht nur durch seine Wildwüchsigkeit und Unberechenbarkeit, sondern vor allem durch seine zerstörerische Gleichgültigkeit dem Zweck einer gesamtgesellschaftlichen Reproduktion gegenüber, dem er formell dient, Lügen straft. Der zuletzt genannte, schreiende Widerspruch zwischen Begriff und Praxis des Erscheinungszusammenhangs Ware ist es nun aber, der dessen unmittelbare Positivität als Schein entlarvt und mit der Frage nach den wirklichen Intentionen hinter der Fassade zirkulierender Gebrauchswerte die Marxsche Wissenschaftstheorie als eine Kritik der Politischen Ökonomie auf den Plan ruft. Das Ergebnis der Marxschen wissenschaftstheoretischen Bemühungen ist, in seiner allgemeinsten Form jedenfalls, bekannt: Der Erscheinungszusammenhang "ungeheure Warensammlung" entpuppt sich als das die Konflikte verschleiernde Resultat eines historisch gewordenen, gesellschaftlichen Konfliktverhältnisses, eines Konfliktverhältnisses zwischen gegenwärtiger und vergangener Arbeit, zwischen Gebrauch der Produktionsmittel und Verfügung über die Produktionsmittel, zwischen Arbeit und Kapital.

Beispiel 2: Freud hat es mit einem minder positiven und scheinbar beschränkteren Erscheinungszusammenhang zu tun, dem der Verhaltensstörungen, die von schweren Neurosen bis zu den kleinen Fehlleistungen des Alltags reichen. Dieser Erscheinungszusammenhang ist Gegenstand gleich mehrerer Erfahrungswissenschaften, der Medizin, der Psychologie, der Psychiatrie und so weiter, die ihn in seiner Unmittelbarkeit aufzufassen, zu klassifizieren und als Zusammenhang zu rekonstruieren bemüht sind. Aber: dieser durch den Begriff der Verhaltensstörung als pathologisch, als besonderer Bereich charakterisierte Erscheinungszusammenhang ist offenbar, wie die Träume und natürlich auch die alltäglichen Fehlleistungen zeigen, ein wesentliches Moment auch des Normalverhaltens, integrierender Bestandteil des Verhaltens überhaupt. Das heißt die Störungen sind vielleicht gar nicht bloße Störungen, sondern symptomatischer Ausdruck von Prozessen im Hintergrund, die als allgemein verhaltensbestimmende auch und gerade das so genannte Normalverhalten in seiner Selbstverständlichkeit und Unmittelbarkeit als einen mühsam und widersprüchlich aufrechterhaltenen Schein entlarven. Dies ist der Punkt, an dem die Freudsche Wissenschaftstheorie, die Psychoanalyse, mit der Absicht auf den Plan tritt, jenen Prozessen unter der Oberfläche eines mehr oder weniger alltäglichen, mehr oder weniger unauffälligen Verhaltens auf die Spur zu kommen. Auch hier ist, wenigstens in seiner allgemeinsten Fassung, das Ergebnis dieser Bemühungen fast schon ein Gemeinplatz: der Erscheinungszusammenhang Verhalten entpuppt sich als das die Konflikte verschleiernde Resultat eines, in seiner historischen Spezifikation vielleicht zwar schwerer zu fassenden, jedenfalls aber entschieden gesellschaftlichen Konfliktverhältnisses, eines Konfliktverhältnisses zwischen Triebansprüchen und kulturell, moralisch, sozial bedingter Versagung.

Was folgt aus Theoriebildungen wie den im Beispiel zitierten, die ich bemüht war, Ihnen als repräsentative Versuche der wissenschaftstheoretischen Überwindung und zumindest Realisierung jener von mir als metaphysische Skepsis bezeichneten Krise der bürgerlichen Erfahrungswissenschaften vorzustellen? Aus ihnen folgt, dass das Ding-an-sich hinter und in den Erscheinungen, das die auf die Erscheinungen angewiesenen empirischen Wissenschaften das Fürchten lehrt, kein Ding, sondern Verhältnisse, und keine bloßen Verhältnisse, sondern Konfliktverhältnisse, und keine bloßen Konfliktverhältnisse, sondern gesellschaftlich bestimmte und historisch bestimmbare Konfliktverhältnisse sind. Aus diesen Theoriebildungen folgt, dass die Metaphysik hinter und in den Erscheinungen, die die unmittelbar empirische Wissenschaft der Skepsis in die Arme treibt, die Gesellschaft ist – eine Gesellschaft allerdings, die ihre von widerstreitenden Intentionen und Interessenkonflikten geprägte Geschichte mehr denn je hinter dem Rücken ihrer Mitglieder macht und die die aus diesen Interessenkonflikten ihrer Geheimgeschichte resultierenden faulen Kompromisse ihren Mitgliedern in einer Form präsentiert, die wahrhaftig den Tatbestand der Irreführung erfüllt: in der Form nämlich einer erscheinenden Unmittelbarkeit, die dazu einlädt, sich ihr zum Zweck einer ebenso unmittelbaren Erfahrung und Orientierung anzuvertrauen, und die bei uns, die wir dieser Einladung nur zu gern Folge leisten, am Ende nur das vage Gefühl hinterlässt, einer zum Zweck der Vermeidung von Erfahrung vorprogrammierten und vorstrukturierten Deckerkenntnis auf den Leim gegangen zu sein. Aus diesen Theoriebildungen folgt also, dass Wissenschaftstheorie als eine Theorie der Bedingungen der Wirklichkeit von Erfahrung Gesellschaftstheorie ist – Gesellschaftstheorie sein muss, wenn anders sie ihre Aufgabe erfüllen will, die Erfahrungswissenschaften der von ihnen skeptisch realisierten Gefahr zu entreißen, bloßer Organisator von Schein zu sein und in eben dieser Funktion zum Handlanger und mehr oder minder bewusstlosen Ausführungsorgan der Realprozesse zu werden, die als eine die gesamtgesellschaftliche Praxis bedrohende, quasi privatgesellschaftliche Gegenpraxis hinter dem Schein und mittels seiner ihr Unwesen treiben.

Fußnoten

... Wissenschaftstheorie 2
Vortrag aus dem Jahr 1975, der sich in Aufmerksamkeit – Klaus Heinrich zum 50. Geburtstag, hrsg. von Olav Münzberg und Lorenz Wilkens, Verlag Roter Stern, Frankfurt am Main 1979, abgedruckt findet.
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