7. Volksstaat und antibürgerlicher Affekt: Der Liberalitätsjude

Nicht etwa, daß diese zynisch funktionalisierte Bedeutung des von Staats wegen kultivierten Antisemitismus den staatstragenden Kräften oder staatsnahen Kreisen, die ihn propagieren und Gebrauch von ihm machen, als solche bewußt wäre! Das vertrüge sich schlechterdings nicht mit dem Mechanismus selbst, der bei aller strategisch-strukturell ausgemachten pädagogischen Zielstrebigkeit und Disziplinierungsabsicht doch allemal methodisch-funktionell die Form einer Ersatzbildungs- und Verschiebungsleistung behält, das heißt, ein Verfahren bleibt, bei dem die beteiligten Parteien, um der direkten Konfrontation aus dem Weg zu gehen und sich nicht in Person herauszufordern, ihre Auseinandersetzung an einem stellvertretenden Objekt austragen, dessen bewußtlose Anerkennung in der Rolle der eigentlichen Streitsache bereits wesentlicher Bestandteil der für die Auseinandersetzung vorgesehenen Lösung ist. Indirekt allerdings wird der Funktionalismus des neuen Antisemitismus etwa durch die freihändige Art und Weise zum Ausdruck gebracht, in der der Antisemit Nietzsche, der Intellektuelle Bismarckscher Dependenz, der antiliberalistische Kritiker und Ideologe des starken Staats, mit der Figur des Juden umspringt: wie er die Juden einmal – sie maßlos denunzierend – zur Quelle alles bürgerlich Gemeinen, moralisch Kranken und liberalistisch Abgefeimten erklärt, ein anderes Mal – sie haltlos hofierend – als Salz in der Geschichtssuppe und die Sache der historischen Dialektik beförderndes antithetisches Prinzip preist, dann wiederum – sich halbwegs mit ihnen identifizierend – als Bürgerschreck und ex negativo geheimen Bundesgenossen bei der Durchsetzung einer neuen antiliberalistisch-cäsaristischen Gesellschaftsordnung preist. Dieser bei aller Bewußtlosigkeit zynische Funktionalismus des von Staats wegen betriebenen und von staatlichen Kreisen, von Junkertum, Militär, Justiz und akademischem Milieu getragenen Antisemitismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat indes in seiner der Haltung Nietzsches entsprechenden strengen Form nicht lange Bestand. Vielmehr verfällt er, kaum daß er wirksam geworden ist, einer zunehmenden Existentialisierung, weicht wieder der eher affektgeladenen als zynischen Ernsthaftigkeit früherer Tage, kehrt erneut jenen substantialistischen Charakter hervor, der mehr von einer symptomatischen Realisierung real-aggressiver Regungen denn von einer systematischen Instrumentalisierung im Dienste transzendental-korrektiver Absichten zeugt. Mag sich der funktionalistische Antisemit Friedrich Nietzsche auch noch so sehr über den substantialistischen Antisemiten Richard Wagner lustig machen und mag dessen emotional-engagierter oder vielmehr wabernd-enragierter Judenhaß auch noch so sehr Ausdruck eines persönlichen Triebschicksals beziehungsweise einer biographischen Pathologie sein – die Zukunft gehört in Deutschland (und nicht nur dort) dieser Wagnerschen Projektion, diesem von Wagner propagierten und in seinen Bühnenspektakeln erstmals einstudierten antisemitischen Affekt, der mit dem ausgehenden 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert zunehmend um sich greift und, getrieben von einer biologistisch-rassistischen Konkretionswut und Beweissucht, zur staatsbürgerlich vorherrschenden Haltung wird.

Ohne zu wissen, wie ihnen geschieht, sehen sich so die Juden in den ersten drei Jahrzehnten unseres Jahrhunderts aus der ihnen mit der Figur des Liberalitätsjuden zugemuteten funktionalistischen Stellung eines orientierenden Kontrastmittels oder menetekelhaften Disziplinierungsinstruments fürs nationale Staatsbürgertum vertrieben und in die rassistisch untermauerte, substantialistische Rolle eines aufs Ganze gehenden ökonomischen Gegners und todernst zu nehmenden politischen Widersachers gedrängt. Sie werden erneut zum Alibi und Prügelknaben eines Kampfes degradiert, der, weit entfernt davon, bloß ein Kompetenz- und Richtungsstreit um die Frage des rechten Wegs fürs gegebene historische Subjekt zu sein, vielmehr alle Merkmale eines um die Position des rechten historischen Subjekts selbst ausgetragenen sozialen Konkurrenz- und Verdrängungskampfes aufweist.

Auf den ersten Blick könnte diese sukzessive Vertreibung des Liberalitätsjuden aus der bloßen Funktion eines als abschreckendes Beispiel disziplinierungsmächtigen staatlichen Erziehungsinstruments und seine Reduktion auf die Rolle eines als schreckenerregender Gegenspieler konkurrenzträchtig-staatsbedrohenden Klassenfeinds als einfache Folge der gleichzeitig fortschreitenden Ansteckung breiterer sozialer Milieus mit dem Bazillus des Antisemitismus erscheinen, das heißt, der Übertragung oder Verschiebung des Antisemitismus von den im engeren Sinn staatstragenden Zirkeln der höheren Beamtenschaft, des Offizierskorps und des akademischen Mittelstands auf untere Schichten der Gesellschaft, auf Lohnarbeiterschichten, kleinbürgerliche Kreise, niedere Staatsbedienstete, militärische Unteroffiziers- und Mannschaftsränge. Indes, zum einen wäre diese sozialempirisch unbestreitbare Ausbreitung nach unten und in die Gesellschaft hinein, die der Antisemitismus in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts erfährt, nur dann eine Erklärung für dessen Funktionswandel, wenn der letztere aus der sozialen Lage jener unteren Schichten und ihrer daraus resultierenden Ressentimentstruktur plausibel zu machen wäre, wenn also allererst erklärt würde, was als Erklärung herhalten soll. Zweitens und vor allem aber übersieht diese "Erklärung", daß die vermeintliche Ablösung und Ersetzung des staatlich kultivierten Antisemitismus à la Nietzsche durch einen gesellschaftlich praktizierten Antisemitismus à la Wagner de facto gar keine Ablösung ist, weil eben jene unteren gesellschaftlichen Gruppen, die den von Staats wegen funktionellen Antisemitismus mit der Konsequenz seiner neuerlichen Substantialisierung übernehmen, dies uno actu ihrer eigenen fortschreitenden "Verstaatlichung", das heißt ihrer eigenen Einübung und Integration in die Rolle einer par excellence staatstragenden Schicht tun. In eben dem Maß, wie der antisemitische Affekt auf breitere Volksschichten übergreift, legen diese ihre bisherige, von Indifferenz oder gar klassenspezifischer Ablehnung geprägte Distanz gegenüber dem starken Staat der Junker, Militärs und höheren Beamten ab und fangen an, sich selber in der Stellung einer den starken Staat tragenden Mehrheit zu gewahren. Sie entwickeln mithin Aspirationen darauf, die Junker, Militärs und höheren Beamten in ihrer Eigenschaft als gesellschaftliche Basis des starken Staats sei's zu ergänzen, sei's gar zu ersetzen. Wenn also von einer Ablösung im Blick auf den Antisemitismus die Rede sein kann, so nicht im Verstand eines Sphärenwechsels, will heißen, einer Ablösung des starken Staats durch die breite Gesellschaft, sondern vielmehr im Sinne eines Gestaltenwandels, nämlich einer Ablösung des auf halb- oder nichtbürgerlichen, elitären gesellschaftlichen Gruppen ruhenden starken Staats durch einen von nicht- oder kleinbürgerlichen, plebiszitären gesellschaftlichen Schichten getragenen und veränderten starken Staat.

Der strukturelle Wandel, dem der starke Staat der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts unterliegt, ist tatsächlich der Schlüssel zum Verständnis der substantialistischen Wendung des als funktionalistisches Instrumentarium staatlicherseits wiederaufgelegten Antisemitismus. Dieser Wandel ist die unwillkürliche und aus ganz und gar instrumenteller Rationalität oder funktioneller Zweckmäßigkeit erklärliche Folge der Funktion, die der starke Staat im 19. Jahrhundert zu erfüllen hat. Als jene Funktion wurde oben die im kurzgeschlossen direkten Kontrakt vom Industriekapital der Staatsbürokratie übertragene Aufgabe bestimmt, gegen das beschränkte Kalkül und die kleinlichen Interessen der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen – und das heißt auch und nicht zuletzt gegen den politisch bornierten Verstand der sozialen Klientel des Industriekapitals selbst – für eine klassenübergreifende Wahrung grundlegender Rücksichten und Perspektiven zu sorgen, will heißen, dem kapitalen Ausbeutungsmechanismus jene infrastrukturellen Rahmenbedingungen zu schaffen und jene langfristigen Entwicklungsmöglichkeiten zu sichern, die der Egoismus und die Kurzsichtigkeit eines losgelassenen Liberalismus ihm zu verschlagen beziehungsweise zu verbauen droht. Ökonomischer Nutznießer dieser vom starken Staat ausgeübten Orientierungs- und Regulierungsfunktion bleibt dabei die gesellschaftliche Kapitalklientel, das liberale Bürgertum: Sowenig der starke Staat mehr und anderes beansprucht, als unter den gegebenen privatkapitalistischen Produktionsverhältnissen dem Mechanismus der kapitalen Verwertung durch die Gewährleistung bestmöglicher objektiver Voraussetzungen und mittels der Sicherstellung größtmöglicher relativer Sozialverträglichkeit zu weitestgehender systematischer Effektivität und historischer Kontinuität zu verhelfen, und sosehr er sich also mit der Rolle eines zentralen Organisators oder auch transzendentalen Regulators der kapitalen Ausbeutungspraxis bescheidet, sowenig macht er der liberalbürgerlichen Klasse als solcher ihre ökonomisch begünstigte Stellung in dieser Entwicklung streitig und sosehr erschöpft sich vielmehr sein Tun darin, jenem ökonomischen Begünstigtenstatus der liberalbürgerlichen Klasse durch die politische Kuratel, unter die er sie stellt, Kraft und Dauer zu verleihen. Ungeachtet aber – und fürs erste auch unbeschadet – dieser instrumentellen Dienstbarkeit oder faktorellen Abhängigkeit, zu der seine Funktion den starken Staat in bezug auf die bürgerliche Klasse verhält, versetzt sie ihn zugleich doch ihr gegenüber in einen Zustand relativer – und vor allem auch progressiver – funktioneller Selbständigkeit beziehungsweise struktureller Souveränität. So eindeutig der starke Staat der von ihm politisch unter Kuratel gestellten staatsbürgerlichen Klasse ökonomisch zu Diensten ist, so zweideutig erweist oder vielmehr entwickelt sich der charakterologische Modus und phänomenologische Duktus, in dem er seine Dienstleistung erbringt. Sein Auftrag ist, wie gesagt, die Gewährleistung der Effektivität und Sicherstellung der Kontinuität des kapitalen Verwertungsmechanismus. Um dieses Ziels willen muß er – notfalls sogar gegen das unmittelbare Interesse der Kapitalklientel – sich mittels sozialgesetzgeberischer Eingriffe, ordnungspolitischer Maßnahmen und ideologiebildnerischer Veranstaltungen zum Sachwalter der ökonomisch-materiellen Grundbedürfnisse, politisch-sozialen Mindestansprüche und ideologisch-kulturellen Residualerfordernisse der in der kapitalen Verwertung ausgebeuteten Klasse machen, um diese damit, negativ ausgedrückt, von ihrem durch die Dynamik des Ausbeutungsprozesses klassenkämpferisch zugespitzten Widerstand gegen die kapitale Verwertung abzubringen und um sie, positiv gesagt, in eine von ihm, dem starken Staat selbst, verordnete und vertretene "vernünftige" Verwertungsstrategie zu integrieren. Sein Hauptadressat, das Hauptobjekt seiner im Dienste der Verwertung stehenden sozialreformerischen Bemühungen, ist die arbeitende Klasse, die unter dem Druck des materiellen, sozialen und kulturellen Elends, das eine liberalistisch losgelassene Kapitalakkumulation über sie verhängt, dem Kapital als solchem den Dienst aufzukündigen und so dessen ganzer, in der kontinuierlich-progressiven Ausbeutung ihrer Arbeitskraft bestehender Entwicklungsperspektive den Boden zu entziehen droht. Die ökonomische Mitwirkung, die politische Unterstützung und die ideologische Zustimmung jener ausgebeuteten Klasse zu gewinnen, ist die Hauptaufgabe des in Kapitaldiensten tätigen starken Staats. Wie könnte er wohl diese Aufgabe besser erfüllen als dadurch, daß er sich parallel zu den ökonomischen, politischen und ideologischen Avancen, die er ihm macht, seinem Hauptadressaten charakterologisch assimiliert, daß er komplementär zu der sozialstaatlichen Fürsorge, die er ihm angedeihen läßt, eine phänomenologische Affinität zum Objekt seiner Zuwendung ausbildet? Was könnte dem Erfolg seiner im Sinne einer dauerhaften kapitalen Verwertungsperspektive sozialintegrativen Bemühungen wohl förderlicher sein als seine Bereitschaft, nicht nur den funktionellen Sachwalter der ausgebeuteten Klasse abzugeben, sondern auch und vor allem ihren existentiellen Platzhalter zu simulieren, sich nicht bloß von Amts wegen ihrer anzunehmen, sondern sie mehr noch in persona zu repräsentieren? Wie könnte er leichter ihr Vertrauen gewinnen oder gar ihrer Mitarbeit sich versichern als in der Weise, daß er sich, während er sie empiriologisch manipuliert, phänomenologisch mit ihr identifiziert, wie besser als dadurch, daß er sich, während er sie technokratisch beherrscht und seiner Kontrolle unterwirft, physiognomisch mit ihr gemein macht und nach ihrem Bilde umformt? Was könnte dem starken Staat für die Wahrnehmung seines integrativen Amts mehr von Nutzen sein als die Überführung des vor- oder überbürgerlichen Charakters, den er als ein aus der Tradition übernommenes, halbaristokratisches Institut unmittelbar behauptet, in eine der sozialen Schicht, mit der er primär befaßt ist, angepaßte und zugewandte un- oder unterbürgerlich quasiproletarische Charakterologie? Vorstellen darf man sich diesen seiner Hauptokkupation und primären Objektbeziehung korrespondierenden und zwischen physiognomischer Veränderung und Charakterkonversion changierenden Persönlichkeitswandel des starken Staats schon für sich genommen nicht einfach als das Ergebnis kalter Berechnung und eines nach freiem Ermessen bilanzierenden Kalküls, vielmehr muß man darin eine im Sinne ebensosehr der funktionslogischen Aufwandsersparnis wie der identitätslogischen Psychoökonomie zwingende Entwicklung sehen. So gewiß der starke Staat den Auftrag hat, durch eine ebensosehr mit sozialtechnischen Manipulationen wie mit sozialreformerischen Eingriffen operierende Kontrolle der ausgebeuteten Klasse die industriekapitalistische Entwicklung zu befördern und sicherzustellen, so gewiß hat er die Aufgabe, zur Erfüllung dieses Auftrags teils den Weg des qua Objektreaktion geringstmöglichen äußeren Widerstands zu gehen, teils sich selber in die qua subjektive Einstellung bestmögliche innere Verfassung zu bringen, kurz, sich als der Repräsentant der unteren Schichten charakterologisch zu profilieren und sich als der Fürsprecher und Vorkämpfer des kleinen Mannes phänomenologisch in Szene zu setzen. Vollends unwiderstehlich wird diese zwischen "Proletarisierung" und "Verkleinbürgerung" schwankende "Vervolksstaatlichung" des starken Staats aber durch die wachsende Bereitschaft der ausgebeuteten Klasse, in ihm tatsächlich einen potentiellen oder gar aktuellen Verbündeten und einen einklagbaren Aktivposten beim Kampf gegen ihre politisch-ökonomische Pauperisierung und ideologisch-kulturelle Deklassierung zu sehen. In dem Maß, wie der starke Staat sozialgesetzgeberische, korporationsrechtliche und kulturpolitische Anstalten trifft, die einer rücksichtslos liberalistischen Ausbeutungspraxis Zügel anlegen und den kapitalistischen Verwertungszusammenhang mit den materiellen und kulturellen Mindestbedürfnissen der Ausgebeuteten in Einklang bringen, fühlen sich diese unwiderstehlich gedrängt, ihre anfängliche Reserve gegen diesen augenscheinlichen Erfüllungsgehilfen des Kapitals, gegen dieses mutmaßliche Faktotum der bürgerlichen Kapitalklientel fahrenzulassen und ihn statt dessen als eine in ihrem Interesse tätige Appellationsinstanz und auf ihre gesellschaftliche Rehabilitation zielende Identifikationsfigur ins Auge zu fassen. Auch wenn sich diese gewandelte Einstellung der ausgebeuteten Klasse zum starken Staat und die als positive Besetzung wirksame Übertragungsbeziehung, die sie zu ihm herstellt, anfangs noch eher mit der falschen Emphase eines revolutionären Machtanspruchs auf den Staat und einer propagierten gewaltsamen Umfunktionierung des letzteren in ein basisdemokratisch-politisches Instrument der Volksmassen präsentiert, nimmt sie doch im Verlauf der phänomenologischen Umorientierung des Staats selbst und seiner charakterologischen Konversion zum "Volksstaat" mehr und mehr die Züge eines blinden Vertrauens auf die originär reformerische Natur des Staats und seine qua Institution garantierte Affinität zum politisch-ökonomischen Sein und ideologisch-kulturellen Wollen der "breiten Schichten des Volkes" an, bis Anfang des 20. Jahrhunderts die ersten Regierungen unter reformsozialistischer Beteiligung oder mit sozialdemokratischer Unterstützung unter Beweis stellen, daß nach dem funktionslogisch-bürokratischen Kurzschluß zwischen Kapital und Staatsmacht, der den starken Staat ins Leben rief, nun also auch der komplementäre charakterologisch-demokratische Kurzschluß zwischen Staatsmacht und Arbeit, der den starken Staat in den Volksstaat transformiert, Wirklichkeit geworden ist.

Diese gleichermaßen im Sozialcharakter und in der Personalstruktur sich vollziehende Verwandlung des starken Staats in den Volksstaat, diese die Staatsmacht ereilende charakterliche Einstellung auf und phänomenale Anpassung an den als ausgebeutete Klasse firmierenden größeren Teil der bürgerlichen Gesellschaft liegt also in der Logik einer politischen Kontroll- und ideologischen Integrationsfunktion, die in eben jener ausgebeuteten Klasse ihr Hauptobjekt und ihre zentrale Aufgabe hat. Aber so wahr Objekt und Zielgruppe der staatlichen Kontrollbemühungen und Integrationsanstrengungen die ausgebeutete Klasse ist, so wahr bleiben Sinn und Zweckbestimmung solch staatlichen Handelns die im Dienste der Kapitalklientel, des Bürgertums, sicherzustellende Kontinuität und Effektivität des industriekapitalen Verwertungsprozesses. Das heißt, es bleibt inhaltlicher Auftrag des Staats, durch solche Kontroll- und Integrationstätigkeit die ausgebeutete Klasse sei's negativ zur Aufgabe ihres Widerstands gegen die sie okkupierende kapitale Ausbeutungsprozedur, sei's positiv zur Zustimmung zu und Teilnahme an dieser Prozedur als einer auch und gerade für sie verbindlichen gesellschaftlichen Grundperspektive zu bewegen. Damit wird nun allerdings deutlich, daß der moderne Staat in Ausübung seines Amtes Opfer einer objektiven Schizophrenie, eines Widerspruchs zwischen sozialem Bezug und materialem Zweck, zwischen Sein und Sinn zu werden droht, daß bei ihm transzendental-funktionale Form und empirisch-realer Inhalt mehr und mehr auseinanderzufallen und sich gegeneinander zu verselbständigen tendieren. Um seinen politisch-ökonomischen Auftrag möglichst effektiv erfüllen zu können, muß sich der starke Staat in die Länge und Breite seines apparatlichen Existierens eine charakterliche Verfassung geben und eine phänomenologische Identität zulegen, der das, was er damit will und erreicht – die Durchsetzung einer ebenso wirksamen wie dauerhaften Wertakkumulation im Dienste des Kapitals und der bürgerlichen Kapitalklientel – diametral zuwiderläuft und ins höchsteigene volksstaatliche Gesicht schlägt.

Und es ist genau diese schizophrene Verfassung, in die der Staat durch seinen Auftrag hineingedrängt wird, diese zwischen volksstaatlich-politischem Mittel und privatkapitalistisch-ökonomischem Zweck aufbrechende Kluft und Widersprüchlichkeit, auf die der Staat nun mit der substantialistischen Wendung reagiert, die sein funktionalistischer Antisemitismus nimmt. Als ein politisches Mittel, das sich seinem ökonomischen Zweck, gerade um ihn besser erfüllen zu können, zunehmend zu entfremden gezwungen ist, baut der Staat nämlich gegen diesen in praxi erfüllten Zweck einen wachsenden theoretischen Affekt und Widerstand auf. Anders und klassenspezifisch deutlicher gesagt: Die Staatsinstanz staut gegen die bürgerliche Kapitalklientel, von der sie, um ihr besser dienen zu können, sich mehr und mehr politisch unterscheiden und volkstaatlich abwenden muß, ein immer größeres soziologisches Spannungsverhältnis, eine zunehmende ideologische Animosität auf. Als eine Macht, die sich um der erfolgreichen Ausführung ihres sozialintegrativen Auftrags willen als Repräsentant der unteren Volksschichten nicht bloß phänomenologisch gerieren, sondern, um glaubwürdig zu sein, auch selber verstehen muß, sitzt der Staat seinem eigenen Selbstverständnis notwendig auf und entwickelt gegen eben das Bürgertum, um dessentwillen er sich doch quasiproletarisch verkleidet oder vielmehr kleinbürgerlich umcharakterisiert, eine abgründige und unzweifelhafte, wenn auch alles andere als originäre und unzweideutige Feindseligkeit und Abwehrhaltung. Es bleibt ihm nun allerdings versagt, diese Feindseligkeit in die Tat einer direkten Aggressivität gegen das Bürgertum umzusetzen, dieser Abwehrhaltung den unmißverständlichen Ausdruck einer unmittelbar gegen die Kapitalklientel sich wendenden Politik zu verleihen. Schließlich würde er damit den Auftrag, in dessen Verfolgung er sich seinen animosen Charakter zuzieht, regelrecht ad absurdum führen, würde er gegen seinen ökonomischen Auftraggeber, das Kapital, mit dem er sich politisch kurzgeschlossen hat, einen ganz offensichtlichen Affront und Treuebruch begehen. Mag schon das Industriekapital einverstanden damit sein, daß seine Klientel, das liberale Bürgertum, vom starken Staat an die Kandarre staatsbürgerlicher Loyalität und Gemeinsinnigkeit genommen wird, – deshalb ist es noch lange nicht bereit zuzulassen, daß der volksstaatlich elaborierte starke Staat diese bürgerliche Klientel in einem wahrhaft so zu nennenden Klassenkampf von oben als überhaupt entbehrlich erkennt und ausschaltet und damit der kapitalen Wertakkumulation ebensowohl den – ihr gesellschaftlichen Sinn verleihenden – konsumtiven Nutznießer wie den – ihr ökonomische Realität sichernden – zirkulativen Wertrealisierer raubt. Die Lösung seines durch das paradoxe Verhältnis von ökonomischem Zweck und politischer Funktion heraufbeschworenen Dilemmas findet der zum Volksstaat durchfunktionalisierte starke Staat in einer klassischen Verschiebungsleistung – der Verschiebung seiner gegen das Staatsbürgertum aufgestauten Emotion auf deren liberalistisches Menetekel, die Juden. Der Liberalitätsjude ist es, den der starke Staat der als Staatsbürgertum vereinnahmten Kapitalklientel als gleichermaßen Negativfolie und warnendes Exempel vorhält und in dessen Figur er all die der letzteren von Haus aus eigenen Züge der Asozialität, der Unverantwortlichkeit und des Klassenegoismus versammelt, gegen die er sie durch ihre staatsbürgerliche Konversion zu immunisieren strebt. Was liegt näher, als jenen funktionellen Affekt, den er im Zuge seiner Vervolksstaatlichung gegen die staatsbürgerliche Klasse als solche aufbaut und dessen Entladung ihr Klientelverhältnis zum Kapital ihm aber verbietet, nun auf diese liberalistische Negativfolie umzulenken? Damit verschafft er sich nicht nur ein Objekt, an dem er seinen Affekt gefahr- und problemlos abreagieren kann – er zieht aus solcher Objektwahl mehr noch den sekundären Nutzen einer Verstärkung des im Sinne staatsbürgerlichen Wohlverhaltens aufs liberale Bürgertum ausgeübten politischen Drucks, mithin den Vorteil einer verbesserten Wahrnehmung eben der Disziplinierungs- und Reglementierungsaufgabe, die das Industriekapital ihm nicht zuletzt im Blick auf die eigene Klientel übertragen hat. Je mehr der zum Volksstaat sich mausernde starke Staat seinem funktionellen, mit der Figur des Liberalitätsjuden operierenden Antisemitismus die substantiell-affektiven Züge einer zum quasibiologisch-rassischen Abwehrverhalten hypostasierten Judenfeindschaft verleiht, um so stärker lädt er das der liberalen Kapitalklientel vexierbildlich-warnend vorgehaltene Menetekel des Liberalitätsjuden zu einem panischen Schreckensbild und Gorgonenhaupt auf, dessen verfänglicher Nähe sich die Betroffenen durch die Flucht in schieren antiliberalistischen Untertanengeist und in den tadellosesten staatsbürgerlichen Konformismus zu entziehen bereit sind.

Diesem substantialisierten und von Staats wegen zu einem Klassenkampf in Ersatzhandlungsform aufgewerteten Antisemitismus schließen sich die neuen staatstragenden, subbürgerlichen Schichten bereitwillig an. In der Tat ist es ein wesentliches Merkmal der Resubstantialisierung, die der funktionelle Staatsantisemitismus des 19. zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfährt, daß er aufhört, eine bloß staatliche Ideologie zu sein, und vielmehr in dem Maß den Charakter einer förmlichen Sozialmotion annimmt, wie er auf diejenigen Teile der Gesellschaft übergreift, die der starke Staat auf Grund seiner volksstaatlichen Metamorphose ja nunmehr zu repräsentieren beansprucht. Weil das, was jener volksstaatlich resubstantialisierte Antisemitismus symptomatisch zum Ausdruck bringt, der quasiklassenkämpferische Affekt ist, den der Staat im Zuge seiner funktionalistischen Mimesis an die ökonomisch ausgebeutete Gesellschaftsklasse gegen die bürgerlichen Nutznießer der Ausbeutung entwickelt, deren Interessen er mit seiner funktionalistischen Mimikry doch zugleich vertritt, kann es kaum verwundern, daß die ausgebeutete Klasse, wenn sie denn von der volksstaatlichen Mimikry sich faszinieren und einfangen läßt, auch und gerade dem die volksstaatliche Mimikry begleitenden "klassenkämpferischen" Affekt zuneigt und Beifall zollt. Hinter dem volksstaatlich ausgebrüteten Antisemitismus des 20. Jahrhunderts spürt und honoriert das in die Rolle der staatstragenden Schicht hineinmanövrierte Volk die originär antibürgerliche Haltung, der es selber huldigt. Daß es sich mit einem solch sekundären und vielmehr symptomatisch verschobenen Ausdruck seiner originären Emotion zufrieden gibt und zu identifizieren vermag, zeigt, wie sehr die ihm qua Volksstaat übergestülpte und seine Integration zum Staatsvolk bewirkende transzendentale Form bereits den klassenkämpferischen Elan ins ziellos sündenbocksuchende Ressentiment verschlagen hat und ist insofern Beweis für die Funktionstüchtigkeit und den Erfolg jener von Kapital und starkem Staat mit der volksstaatlichen Umcharakterisierung des letzteren verfolgten Sozialstrategie. Daß der starke Staat im Zuge seiner Vervolksstaatlichung seinem funktionellen Antisemitismus eine substantielle Wendung gibt, liegt nicht unbedingt in der politischen Absicht und im ideologischen Kalkül der Entwicklung, sondern ist vielmehr das spontane Resultat der sozialintegrativen Tätigkeit dieses Staats, die ihn in paradoxaler Gegenläufigkeit einen quasiklassenkämpferischen Affekt gegen die bürgerlichen Begünstigten seiner Integrationstätigkeit ausbilden läßt, einen Affekt, den er sich beeilt, an der Ersatzfigur des diesen Begünstigten zum Zwecke ihrer staatsbürgerlichen Disziplinierung vorgehaltenen Menetekels Liberalitätsjude abzureagieren. Daß es nun aber dem Volksstaat gelingt, in dieses Bockshorn einer affektiven Abreaktion auch und gerade die antibürgerlichen Animositäten der von ihm zum Staatsvolk integrierten subbürgerlichen Klasse zu jagen, läßt aus der zweideutigen Begleiterscheinung oder Nebenwirkung der Integrationstätigkeit ein integratives Meisterstück werden und spricht, so gesehen, ohne Frage für die politisch-ideologische Leistungskraft der volksstaatlichen Strategie.

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