5. Die Suche nach dem Wesen

Der in der Polis fehlende Gemeinsinn wird der verschwundenen Aristokratie attestiert. Aber nicht in Gestalt der sozialen Schicht, die ihn verkörperte, sondern als jedermann lehrbare Haltung soll er wiedergewonnen werden. Das Wissen vom Wesen, dem der Aristokrat sein gemeinsinnig höheres Selbstsein verdankte und das bei ihm nur impliziert war, wird jetzt explizit thematisch. Indem in einer Situation, in der jeder bloß auf den eigenen Vorteil aus ist, das Wesen als das Gute, das allen Zuträgliche, gesucht wird, verwandelt sich der eigentlich nur negative Auslöser von Gemeinsinn in dessen positiven Grund. Aber unmittelbar ist das Wesen reiner Formalismus, die Negation aller partikularen Inhalte, die es eben durch solche Negation zu einer gesprächsweisen Ermittlung des wahren Inhalts anzutreiben sucht.

Daß die beteiligten Gruppen, die einander konfrontierenden Parteien, keinen über die konspirative Anerkennung ihrer wechselseitigen Abhängigkeit hinausgehenden Sinn fürs Allgemeine und Gemeinschaftliche, für die Polis als solche, mehr aufbringen oder daß da keiner mehr ist, der diesen Sinn fürs Allgemeine in eigener Person verkörpert beziehungsweise als Gruppe repräsentiert, wird unter dem Eindruck der krisenhaften Entwicklung, die in der Spätphase des Peloponnesischen Krieges die athenische Polis nimmt und der sozialen Auflösungserscheinungen und politischen Fraktionierungen, die sie produziert, sowie vollends angesichts des in Gestalt einer oligarchischen Demokratie institutionalisierten sozialen Konflikts, als der sich die restaurierte Polis darstellt, durchaus als Manko empfunden und in der Tat von manchen als Symptom einer unheilbaren oder jedenfalls von den unmittelbar Beteiligten selbst nicht zu bewältigenden Zerrüttung des Staatskörpers wahrgenommen. Verarmte Adlige und versprengte einzelne aus anderen Schichten, die über politische Ambitionen und über politisches Talent, über Intelligenz und Überzeugungskraft, analytische und rhetorische Fähigkeiten verfügen, nicht indes über die Mittel und den Anhang, den Einfluß und die Beziehungen, um sich tatsächlich politisch in Szene setzen zu können – sie machen es sich statt dessen zur Aufgabe, das Fehlen von Gemeinsinn beziehungsweise von Personen oder Gruppen, die das Gemeinwohl im Auge haben, als wesentliches Krankheitszeichen anzuprangern.

Aber nicht bloß als maßgebliches Symptom der Krankheit des Staatskörpers, vielmehr als deren ausschlaggebende Ursache stellen sie jenen Mangel vor! In der Tat ist das im Zuge des Peloponnesischen Krieges fortschreitende und mit der oligarchischen Restauration der Polis vollends besiegelte Verschwinden der durch ihren Oikos quasi noch territorialherrschaftlich fundierten und kraft liturgischer Großtaten, kraft ihres Dienstes am Gemeinwohl, in der Polis Führungsfunktion beanspruchenden Aristokratie und das spurlose Aufgehen der Reste dieser Aristokratie in der neuen, den traditionellen Unterschied zwischen herrschaftlichem Landbesitz und kommerziellem Geldreichtum aufhebenden oligarchischen Oberschicht die offensichtlichste und dem nach Gründen für den Niedergang des Gemeinwesens forschenden analytischen Blick am ehesten bemerkliche Veränderung der Sozialstruktur. Von daher liegt es in der Tat auch nahe, diese sozialstrukturelle Veränderung als für den Niedergang des Gemeinwesens verantwortlichen Faktor, als die entscheidende Ursache für den Zerfall der Polisgemeinschaft in eine von Gruppeninteressen beherrschte Gesellschaft mit unbeschränkter Habsucht und beschränkter Haftung geltend zu machen. Und falls die betreffenden Analytiker aus ihren diagnostischen Bemühungen eine therapeutische Konsequenz zu ziehen, sich aus ihrer gesellschaftlichen Einsicht einen gesellschaftlichen Auftrag herzuleiten gedenken, liegt es ebenso nahe für sie, die Wiederherstellung des Gemeinwesens und eines ihm dienlichen oder förderlichen politischen Handelns an die Wiedergewinnung solchen aristokratischen Gemeinsinns zu knüpfen und das heißt in praxi oder unter den Bedingungen der an ihren privativen Interessen klebenden und miteinander im unauflöslichen Streite liegenden ökonomischen Gruppierungen und politischen Parteien, sich für die Wiedereinführung einer den aristokratischen Gemeinsinn neu ins Spiel und zur Geltung zu bringen fähigen gesellschaftlichen Kraft oder Instanz zu verwenden. An eine tatsächliche Wiederbelebung der alten landbesitzenden Aristokratie einschließlich der von ihr wahrgenommenen gemeinschaftsdienlichen Funktionen ist dabei natürlich nicht zu denken. Kraft Egalisierung des territorialherrschaftlichen Landbesitzes mit dem in Geldform akkumulierten handelskapitalen Reichtum ihrer im Oikos bestehenden aparten ökonomischen Basis beraubt und, soweit nicht im Kriege geblieben und untergegangen, in der homogenisierten oligarchischen Schicht verschwunden und aufgegangen, ist diese traditionelle Oberschicht unwiederbringlich passé. Soll sich der vormals von ihr verkörperte Gemeinsinn wiedergewinnen und neu zu Geltung bringen lassen, so nicht in Gestalt einer konkreten sozialen Schicht und ihres durch den sozialen Standort definierten Handelns, sondern in Form eines von der sozialen Topographie ablösbaren und als abstrakte Haltung lehrbaren Kodex.

Begründet ist nach traditioneller Überzeugung der in liturgischen Leistungen zum Ausdruck kommende und eben damit die Befähigung zur politischen Führung, zur arché, unter Beweis stellende Gemeinsinn der alten, untergegangenen Aristokratie in ihrer Rückbeziehung aufs Wesen und ihrer kraft solchen Rückbezuges sich von der Welt als bloßer Erscheinung emanzipierenden Selbstmächtigkeit. So wahr die Bürgerschaft dem Aristokraten ein besonderes Verhältnis zu der wesenskultlich erschlossenen Domäne des von aller dionysischen Diesseitigkeit gereinigten und in seiner absoluten Indifferenz und Negativität retablierten anderen Subjekts, einen privilegierten Zugang zu dem als das eigene Wesen wahrgenommenen wahren Sein konzediert, das alles unmittelbare Dasein, alle diesseitige Empirie zu einem substanzlosen Abglanz und Widerschein dessen, was in Wahrheit ist, einer flüchtigen Deviation vom eigentlich verfehlten Thema erklärt, so wahr attestiert sie ihm damit ein in dieser Wesenhaftigkeit bestehendes höheres Selbst, das, wie es einerseits von der engen Fixierung an die Erscheinungswelt und Hörigkeit ihr gegenüber befreit, zu ihr auf abstraktive Distanz zu gehen erlaubt und sie als das, was sie in Wahrheit ist, als dimensionsloses Oberflächenphänomen und bodenlos Präsentes, als einen aus nichts heraus sich gebenden Sinnenschein zu durchschauen ermöglicht, so andererseits bei der Wiedereinlassung in sie zu einem freieren Umgang mit ihr, einem durch keine sonstigen Rücksichten und weiteren Bedenklichkeiten eingeschränkten unmittelbaren Gebrauch und Genuß dieser ihrer Präsenz ermächtigt. Für den Aristokraten liegt der Vorteil auf der Hand: er wird durch das ihm attestierte wesensbedingt höhere Selbstsein und den ihm dadurch eröffneten erscheinungsweltlichen Durchblick und phänomenalen Bewegungsspielraum die religiösen Verbindlichkeiten und opferkultlichen Hypotheken los, die auf dem oikosentsprungenen, territorialherrschaftlich fundierten Reichtum lasten, den er in die Polis mitbringt, und die gegen die unbedenklich mundane Verwendung des letzteren, gegen seinen rücksichtslosen Einsatz im polisinternen Spiel um politische Macht und soziales Prestige jederzeit als legitimationsvernichtender Einspruch geltend gemacht werden können. Das Unbedenklichkeitsattest, das die Bürgerschaft dem Aristokraten ausstellt, die Befreiung von opferreligiöser Rechenschaftspflicht und göttlicher Bevormundung, die sie ihm bescheinigt, erhält er indes nicht umsonst. Dafür, daß die Bürgerschaft dem Aristokraten ein wesenhaft höheres Selbst zugesteht und ihm so erlaubt, über seinen oikosentsprungenen Reichtum als über ein entmystifiziertes, von göttlich-kultischen Prärogativen entlastetes und, gemessen am Wesen, das er gewahrt, zum leibhaftig bloßen Sinnenschein und zur hintergrundslos unmittelbaren Gegebenheit aufgeklärtes Eigentum frei zu verfügen, verlangt sie, daß er von solchem Eigentum entsprechenden Gebrauch macht. Sie erwartet mit anderen Worten, daß er seinem Reichtum mit genug selbstbewußter Gleichgültigkeit und wesenserfüllter Unabhängigkeit gegenübersteht, um sich gegebenenfalls von ihm zu trennen und ihn der Polis, falls sie ihn braucht, zu überlassen, um also seinen politischen Führungsanspruch durch, negativ ausgedrückt, heroischen Uneigennutz, und, positiv gewendet, liturgischen Gemeinsinn zu untermauern.

Weder für den Aristokraten noch für die Bürgerschaft ist demnach der das höhere Selbstsein konstituierende Wesensbezug als solcher ein explizites Thema und ein zu klärender Interessenpunkt. Für beide bleibt er eine transzendentale Bestimmung, ein organisierendes Mittel, das in aller Form vorausgesetzt wird, nicht aber inhaltlich expliziert werden muß: dem Aristokraten erlaubt der angenommene Wesensbezug, den von kultischen Observanzen, religiösen Rücksichten abstrahierenden Umgang mit seinem Reichtum, den er in der Polis pflegt, zu legitimieren; der Bürgerschaft ermöglicht die Annahme solchen Wesensbezugs, auf den Umgang des Aristokraten mit seinem Reichtum Einfluß zu nehmen, ersteren zu liturgischen Großtaten zu bewegen und damit den letzteren aus einem potentiellen Instrument politischer Fraktionierungen und Machtkämpfe ins aktuelle Werkzeug eines segensreichen Wirkens fürs Gemeinwohl zu verkehren. Die Bürgerschaft gibt sich deshalb mit der Liturgie als ebenso indirektem wie handgreiflichem Beweis für die Tatsächlichkeit des aristokratischen Wesensbezuges zufrieden, während der Aristokrat selbst, der an der Liturgie als einer sublimierten Form der Befriedigung seines reichtumgestützten politischen Machtstrebens und sozialen Geltungsdranges Geschmack findet, sich auf das Wort der Bürgerschaft verläßt, die ihm durch die Anerkennung, die sie seinem Wirken fürs Gemeinwohl zollt, will heißen, durch den Ruhm, den er in ihren Augen genießt, seinen Wesensbezug attestiert.

Eben dieser Wesensbezug aber wird nun, da die Aristokratie in ihrer naturwüchsigen Gestalt untergegangen, als soziale Größe verschwunden ist, inhaltlich thematisch, als solcher zum Interessenpunkt. Soll der zu liturgischen Leistungen motivierende Gemeinsinn, den früher die Aristokratie kraft anerkannt höheren Selbstes verkörperte, wiederbelebt werden, so muß die Quelle, aus der solch gemeinsinnig höheres Selbst sich speiste, muß das Wesen, in dem es als in seiner Wahrheit gründete, erneut aufgespürt und erschlossen werden. Damit aus jener Quelle neu geschöpft werden kann, muß sie angegangen und geortet, identifiziert und in Augenschein genommen, sondiert und zur Kenntnis gebracht werden, kurz, es gilt, mit künstlichen Mitteln, mit den Mitteln des Verstandes und der Reflexion, jenen Bezug zum Wesen wiederherzustellen, den aus quasi naturwüchsigen Gründen, aus Gründen des Ethos und der Intuition, vormals der Aristokrat unterhielt. Oder besser gesagt gilt es, sich explizit oder mit Geisteskraft vor Augen zu rücken, was vorher implizit oder aus Lebensgewohnheit vorausgesetzt war, sich als einen erfahrbaren und lernbaren Inhalt zu vergegenwärtigen, was vorher als ein unbefragt anzunehmendes Potential gegeben war. Wer allerdings und auf welchem Wege diese Vergegenwärtigung des Wesens, seine Vorstellung und Erkenntnis, vollbringen soll, ist nicht sogleich klar. Schließlich ist das, was durch seinen Wesensbezug konstitutiv bestimmt und ausgezeichnet war, was privilegierten Zugang zum Wesen hatte, das gemeinsinnig höhere Selbst des Aristokraten nämlich, ebenso gründlich verschwunden wie der Gemeinsinn, den es kraft Wesensbezuges bewies. Und schließlich kommt dieses Verschwundensein einer ersatzlosen Streichung gleich, da nun nichts weiter mehr existiert als die nach ihrer ökonomischen Stellung in Klassen sortierten und nach ihren der ökonomischen Stellung entsprechenden politischen Interessen zu Fraktionen agglomerierten Bürger, die – von allem die ökonomischen Verhältnisse der jeweils anderen in Rechnung stellenden und ihre politischen Interessen berücksichtigenden Gemeinsinn himmelweit entfernt – das empirische Dasein, mit dem sie konfrontiert und dem sie vielmehr mit Haut und Haar verhaftet sind, ausschließlich für die Befriedigung ihrer umstandslos an es gestellten partikularen Ansprüche und Forderungen nutzbar gemacht und verwendet wissen möchten und die also die Erscheinungswelt, mit der sie umgehen und in die sie vielmehr mit sämtlichen Sinnen und mit all ihrem Trachten verstrickt sind, einzig und allein im Sinne der Realisierung ihrer unmittelbar an sie sich knüpfenden privativen Perspektive gestaltet und verändert sehen wollen.

Darüber hinaus gibt es höchstens noch jene versprengten einzelnen aus den verschiedenen Schichten, die ihr soziales Schicksal, ihr biographischer Charakter, ihre natürliche Intelligenz dazu bringen, das Wissen vom Wesen als gesellschaftliches Desiderat, als ein dem Gemeinwesen fehlendes Know how vernünftiger Organisation und gedeihlichen Zusammenlebens einzuklagen. Aber eben nur als Desiderat, als Nicht-Vorhandenes, als eine Tugend, eine arete, die mit denen, die sie quasi standeshalber besaßen, verschwunden ist, kennen sie dies Wissen vom Wesen und klagen sie es ein – weiter wissen sie nicht davon. Oder genauer gesagt, kennen sie noch eine praktische Folge des Wissens vom Wesen und wissen nämlich, daß es Gemeinsinn erzeugt beziehungsweise in unmittelbarer Konsequenz nach sich zieht – und insofern wissen sie doch schon etwas vom Wesen und haben diese nicht bloß desiderative, sondern positive Vorstellung von ihm, daß derjenige, der es kennt und sein Streben an ihm orientiert, sein Handeln auf es abstellt, kurz, das Wesen zum Maßstab seiner Praxis macht, etwas betreibt, das nicht nur ihm persönlich nutzt, sondern allen frommt, auf etwas zielt, das nicht nur ihm allein oder seiner Gruppe guttut, sondern für die Gesamtheit, für das Gemeinwesen gut ist. Vom Wesen zu wissen und sich nach ihm zu richten bedeutet mit anderen Worten, nicht nur den eigenen Vorteil, sondern das jedermann Zuträgliche, nicht nur, was dem einen oder anderen recht ist, sondern was allen gerecht wird, nicht nur dieses oder jenes Gut, sondern das Gute ganz allgemein und überhaupt zu gewahren und sich vorzusetzen.

So gesehen und aus der Perspektive der nach ihm gestarteten Suchaktion betrachtet, zu der die Not des von Widerstreit und Fraktionierung zerrissenen empirischen Daseins und erscheinungsweltlichen Bestehens der Polis das Motiv liefert, verliert das Wesen, wie unschwer erkennbar, die rein negative Bedeutung, die es als ein das aristokratisch höhere Selbst begründender – und wie sehr auch als solcher implizit und inhaltlich unerklärt bleibender – Bezugs- und Anhaltspunkt hat; es macht in der Tat eine im Sinne seiner Positivierung nachdrückliche Charakterkonversion durch. Negativ ist das vom Aristokraten gewahrte Wesen, weil es bei letzterem ja nichts weiter bewirkt als eine qua höheres Selbst gewonnene abstraktive Distanz zum empirischen Dasein und emanzipative Indifferenz gegenüber der Erscheinungswelt; der Gemeinsinn, den der Aristokrat unter Beweis stellt, das heißt, seine Bereitschaft, sich von empirischem Besitztümern und erscheinungsweltlichen Gütern, über die er verfügt, zu trennen und sie mit liturgisch großer Geste zum Wohle der Polis preiszugeben, ist als Ausdruck solcher Distanz und Indifferenz bloß indirekte und in der Tat akzidentielle Folge der im Blick auf die Erscheinungswelt rein negativen Wirkung des Wesens. Indem nun aber die Suchaktion nach dem Wesen von dieser im Gemeinsinn bestehenden akzidentiellen Auswirkung ihren Ausgang nimmt und aus ihr das Wesen im Regreß zu ermitteln oder induktiv zu erschließen bemüht ist, verwandelt sie zwangsläufig den negativen Auslöser des Gemeinsinns, seinen akzidentiellen Anlaß, in dessen positive Ursache, seinen substantiellen Grund. Aus einem Sein, das als unendlich-negatives Kriterium über die Erscheinungswelt als solche den Stab bricht und sie in toto ihrer Scheinhaftigkeit überführt und dessen Kenntnis deshalb jene Distanz zur Erscheinungswelt und Desinteressiertheit an ihr impliziert, die dann der unverändert an der Erscheinungswelt interessierten Bürgerschaft sekundär erlaubt, den kraft Wesen solcherart von der Erscheinungswelt Distanzierten und an ihr Desinteressierten zu einem eher den gemeinschaftlichen Anliegen entsprechenden, eher im Interesse der Polis als ganzer liegenden und in diesem Sinne uneigennützigeren, dem Gemeinwohl dienlicheren Umgang mit der Erscheinungswelt zu bewegen – aus diesem Sein wird eine Instanz, die deshalb, weil ihre Kenntnis auf sekundärem Wege gemeinnütziges Verhalten bewirkt, im Rückblick zum primären, definitiv-positiven Maßstab für die Neuordnung des Verhältnisses zur Erscheinungswelt avanciert. Aus der prinzipiell anderen, transzendenten Ordnung, die bei denen, die sie gewahren, dem Gemeinwohl förderliche immanente Verhaltensänderungen nach sich zieht und die deshalb unbeabsichtigte Auswirkungen auf den als Immanenz subsistierenden erscheinungsweltlichen Zusammenhang hat, wird so ein alternatives, transzendentales Ordnungsprinzip, dessen kenntnisvermittelte Aktualisierung verspricht, die Verhaltensweisen aller im immanenten Erscheinungszusammenhang Involvierten systematisch zu verändern.

Dabei ist die Grundrichtung der Veränderung unschwer einsichtig und auch bereits benannt: Was die Kenntnis der durch ihre induktive Reklamation ins transzendentale Ordnungsprinzip umgewendeten prinzipiell transzendenten Ordnung in Aussicht stellt, ist die Ersetzung privativen Vorteils durch kollektiven Nutzen, die Ablösung des vom einzelnen verfolgten Interesses durch ein jedermann zuteil werdendes Wohl, kurz, die Abdankung dieses oder jenes für die Polis empirisch angestrebten, weil der einen oder anderen Gruppe dienlichen Zustandes zugunsten einer von der Polis systematisch anzustrebenden, weil dem Gemeinwesen als solchem zuträglichen Verfassung. Die inhaltliche Bestimmtheit allerdings des kraft Reflexion aus seiner transzendenten Stellung in die Erscheinungswelt zurückgeführten und als das transzendentale Ordnungsprinzip der Polis geltend gemachten Wesens läßt zu wünschen übrig und kommt in der Tat einer vollständigen Fehlanzeige gleich. Weil alles, was die miteinander im Streite liegenden und um ihren privativen Vorteil konkurrierenden Gruppen als den für eine gedeihliche Entwicklung der Polis maßgebenden Orientierungs- und Zielpunkt in Vorschlag, als das erstrebenswerte Wesen der Polis zur Geltung bringen, Produkt des per definitionem selbstischen Meinens der Betreffenden, Ausdruck dessen ist, was ihnen aus ihrem interessierten Blickwinkel für das Beste gilt, und mithin ein in schierer Partikularität und Eigensucht sich erschöpfendes und ohne jede Rücksicht auf das Gemeinwohl sich behauptendes Unwesen ist und weil zugleich außerhalb der miteinander streitenden Parteien, jenseits der sich ebensosehr gegeneinander verwahrenden wie aneinander bestimmenden Fraktionen niemand mehr da ist, der eines nicht schon durch partikularistisches Interesse und privativen Egoismus verzerrten Blickes auf das Gemeinwohl überhaupt fähig wäre, scheint in der Tat das als Maßstab des Gemeinwohls gesuchte wahre Wesen der Polis, der formalen Vorstellbarkeit und nominellen Präsenz ungeachtet, die ihm das evokative Verlangen der nach ihm Suchenden verleiht, inhaltlich nichts und unwiederbringlich verloren.

Indes ist diese inhaltliche Nichtigkeit, die das Wesen als rein formaliter Vorgestelltes beweist, konstruktiv gewendet, nicht einfach das Nichts des Wesens, sondern das Nichts seiner vorhandenen, in ihrer Partikularität mit ihm unvereinbaren Inhalte und ist also das Bestehen des Wesens als des reinen Formalismus ebensowohl das Bestehen auf dem Wesen als auf der um ihre falschen Inhalte gebrachten reinen Form der Sache. Weit entfernt, daß vom Wesen nichts bliebe, ist vielmehr das Nichts, das bleibt, das Nichts des die Form unmittelbar erfüllenden Inhalts und ist mithin die Form selbst die Gestalt gewordene Absage des Wesens an alle seine empirisch vorgegebenen Bestimmungen und Inbegriff seines Anspruchs auf die systematische Sichselbstgleichheit eines in Einklang mit der Form gebrachten, wesensbestimmten Inhalts. Das Wesen als in seiner Nichtigkeit vernichtender Formalismus ist jenes Gute, nach dem alle unterschiedslos streben, aber so, daß es allen nur in der partikularen Bestimmtheit eines eigensüchtig oder gruppenspezifisch gewendeten Vorteils vor Augen tritt, ist jenes Gleiche, um das sich alle gleichermaßen bemühen, aber so, daß es ihnen nur als ein sie gegenüber anderen begünstigendes privatives Privileg ins Blickfeld gerät, ist jenes Gerechte, auf das sich jedermann beruft, aber so, daß es jedem nur als ein auf Kosten der übrigen erkauftes Recht in den Sinn kommt.

Soll dies den Suchenden nominell sich präsentierende Wesen mehr sein als der Formalismus eines von allen gleich ausgesprochenen Namens für eine von jedem verschieden aufgefaßte Sache, so gilt es, ihm seinen eigenen, als die Sache selbst wohlverstandenen, weil jenseits aller partikularen Sachauffassungen sich etablierenden Inhalt nachzuweisen. Woher aber nehmen und nicht stehlen? Woher, mit anderen Worten, wenn nicht aus den empirisch gegebenen, wesensfremden und eben deshalb ihres sub specie des Wesens schieren Formalismus' überführten Inhalten der Individuen und der politischen Gruppen der Gemeinschaft soll solch wesenseigener Inhalt sich ermitteln lassen? Was sonst als diese dem Wesen in aller Form seines ihnen gegenüber abstrakten Bestehens widerstreitenden empirischen Bestimmungen steht für seine inhaltliche Rekonstruktion zur Verfügung? So aber im paradoxen Zugleich als systematisch entschiedene Absage an die empirisch gegebenen Inhalte und als thematisch verbindliche Anfrage an sie begriffen, ist das Wesen im Sinne des Wortes bestimmte Negation. Es ist eine Absage, die die inhaltlichen Bestimmungen, denen sie sich erteilt, zum Widerspruch herausfordert. Es ist eine Anfrage, die die widersprüchlichen Positionen, die sie ins Gespräch zieht, eben dadurch, daß sie sie ins Gespräch zieht, gegeneinander ausspielt und einander negieren läßt.

Als abstrakte Gesprächsbasis ist das Wesen Prinzip der Dialektik, deren List darin besteht, die partikularen Standpunkte miteinander zu konfrontieren und zu einem Vergleich zu zwingen. Weil aber die Standpunkte einander ebensosehr bedingen, wie sie miteinander konkurrieren, und weil deshalb eine Annäherung zwischen ihnen nur in Form des Kollapses möglich ist, arten die Vergleichsverhandlungen zu einem unabschließbaren Verdrängungswettbewerb aus.

So gesehen, ist das von den Suchern nach Gemeinsinn beschworene Wesen erst einmal nichts weiter als eine abstrakte Verhandlungsbasis, ein formeller Gesprächsrahmen, kurz, es ist das Prinzip der Dialektik. Indem es die empirischen Inhalte, die von Individuen und Gruppen der Gemeinschaft unmittelbar mit ihm verbunden werden, negiert und verwirft, wird es zu einer ebenso bedeutungsträchtigen wie nichtssagenden kriteriellen Bedingung, einer ebenso verbindlichen wie leeren maßstäblichen Vorgabe, die das Negierte und Verworfene, will es als wesentliche Bestimmung und kanonisches Moment Wiederaufnahme finden, erst einmal erfüllen und der es mit anderen Worten zwecks Wiederzulassung zur Fakultät und Integrität des Wesens erst einmal genügen muß. So gewiß das zur reinen Form der Sache abstrahierte Wesen, das die nach ihm Suchenden ins Spiel bringen, den empirischen Inhalten, von denen es abstrahiert, den in ihrer Verwerfung bestehenden kurzen Prozeß ihrer mit der Totalität und Kontinuität der Wesensbestimmung unvereinbaren heteronomen Partikularität und privativen Diskretheit macht, so gewiß nötigt es diese Inhalte, sich vor seinen Schranken zu verantworten, und zwingt sie, in dem durch seinen verweisend negativen Bescheid aus dem Boden gestampften Disputationsrahmen oder Diskussionsforum Rede und Antwort zu stehen.

Dabei zeigt sich die Rede, die sie stehen müssen, gar nicht so sehr an das abstrakte Wesen selbst gerichtet, erweist sich die Antwort, die sie geben müssen, gar nicht eigentlich auf die reine Form als solche gemünzt. Wie sollte auch zwischen der reinen Form des Wesens, die nach dem Willen der Wesenssucher alle empirischen Inhalte als partikular verwirft, als privativ von sich ausschließt, und den empirischen Inhalten, die nach dem Dafürhalten derer, die sie vertreten, die Form des Wesens je schon als ihr egales Namensetikett mit sich führen, als indifferent formale Identität vorzuweisen haben – wie sollte zwischen diesen beiden Extremen eine sinnvolle Diskussion, ein disputativer Austausch stattfinden können? Was vielmehr die in der pauschalen Absage an ihre empirische Unmittelbarkeit bestehende Herausforderung der Inhalte, ihre Forderung vor die Schranken des auf die reine Form der Sache, auf schieren Formalismus reduzierten und für im übrigen nichts erklärten Wesens bewirkt, ist die konfliktträchtige Zusammenführung und wechselseitige Konfrontation der Inhalte, ist dies scheinbar beiläufige, aber in Wahrheit entscheidende Resultat, daß sie vor den Schranken des zur Schiedsinstanz abstrahierten Wesens aufeinander treffen und aneinander geraten, sich ins Gehege kommen und Anstoß aneinander nehmen, mithin aber gezwungen sind, sich gegenseitig als Konkurrenten um die Zugehörigkeit zu ein und demselben Wesen, als Bewerber um den identischen Status einer Wesensbestimmung zur Kenntnis zu nehmen, kurz, sich miteinander als mit ihresgleichen auseinanderzusetzen.

Tatsächlich hat die qua Dialektik praktizierte Methode, die divergierenden inhaltlichen Versionen vom Wesen bei ihrem abstrakten, gemeinsamen Namen zu rufen und diesen damit zum kriteriellen Punkt und prozessualen Forum eines unter der Anklage des Etikettenschwindels durchzuführenden Prüfvorganges zu machen, eben darin ihren Hintersinn, ihre List, daß die inhaltlichen Versionen des Wesens, indem sie sich vor die Schranken seiner formalen Identität zitiert finden, einander bestimmt in die Quere kommen und in verbaler Handgreiflichkeit ihrer internen Differenzen gewahr werden und, um nicht die Differenzen alle formale Identität Lügen strafen und zu – die Anklage bestätigenden, weil das gemeinsame Etikett als schieren Schwindel entlarvenden – ebenso diskreten wie partikularen Divergenzen entarten zu sehen, genötigt sind, sich auf ein Konvergenzverfahren einzulassen, will heißen, sich mittels Auseinandersetzung ins Benehmen zu setzen, sich durch alle Konfrontation hindurch abzugleichen, zu vereinbaren, zu vertragen und hiermit notgedrungen jene verhältnismäßige inhaltliche Übereinstimmung und Kontinuität zu ermitteln, die ihnen gestattet, sich im Namen der sie formaliter durchwaltenden Identität realiter zusammenzufinden und unter dem einen, von ihnen allen als ihr nominelles Wesen habituell reklamierten Dache ohne Streit und gedeihlich zu etablieren, kurz, als eine mit der reinen Form der Sache konforme, weil mit ihresgleichen kompatible Inhaltlichkeit zu koexistieren.

So genommen, erscheint die von den Wesenssuchern praktizierte Dialektik einfach nur als eine Methode, die gegebenen inhaltlichen Versionen des Wesens, seine unmittelbar empirischen Bestimmungen im Namen der als ihre abstrakte Identität gegen sie ins Feld geführten und ihnen dabei als kriterieller Verhandlungsrahmen untergeschobenen reinen Form des Wesens zur Räson zu bringen, will heißen, sie dazu zu zwingen, sich nach Maßgabe der systematischen Kontinuität und inneren Stimmigkeit jener ihnen herausfordernd vorgestellten formellen Identität miteinander zu vergleichen und im Zuge dieses Vergleichsverfahrens das ihnen allen Gemeinsame, sie sämtlich Verbindende, das Allgemeinmenschliche, Gattungsspezifische, das, was nicht ihnen in der Eigenschaft heterogener ökonomischer Gruppen und privativer politischer Fraktionen Vorschub leistet und Nutzen bringt, sondern was ihnen im Sinne einer homogenen sozialen Spezies, einer zur Polis entfalteten Gemeinschaft sui generis nottut und zuträglich ist, als ihren wesensgemäß bestimmten Gehalt, ihren Gemeinsinn stiftenden objektiven Bestand herauszuprozessieren. Anders gesagt, erzeugt die Dialektik der Wesenssucher ein Spannungsverhältnis zwischen der die empirischen Inhalte des Wesens als nominelle Identität durchwaltenden und ihnen nun aber als verbindliche Rahmenbestimmung vorgehaltenen reinen Form des Wesens und den kraft dieser Rahmenbestimmung einander ins Gehege kommenden empirischen Inhalten selbst und nötigt die letzteren, zwecks Abbaues der formell zwar in ihrem Verhältnis zur reinen Form beschlossenen, tatsächlich aber ausschließlich in ihren Beziehungen untereinander gelegenen Spannungen einen der reinen Form nicht mehr widerstreitenden, weil ihr im Sinne wechselseitiger Übereinstimmung entsprechenden essentiellen Inhalt aus sich zu ermitteln, um dann in diesem als das Maß der Gemeinsamkeit etablierten Mittel die Richtschnur für die je eigene Abweichung und Korrekturbedürftigkeit an der Hand zu haben. Den die Dialektik übenden Wesenssuchern bleibt so nur das reine Zusehen, das geduldige Abwarten, bis die durch den formellen Gesprächsrahmen unter den Druck ihrer inhaltlichen Differenzen gesetzten empirischen Versionen vom Wesen sich disputativ verglichen, per Diskussion verständigt und den mit der reinen Form konformen, weil mit sich selbst kompatiblen Inhalt, das nicht nur abstrakt-nominell, sondern konkret-ideell im Interesse aller gelegene und deshalb Gemeinsinn erzeugende Wesen, quasi selbsttätig gefunden haben.

So elegant und unaufwendig die dialektische Methode ihrem Prinzip nach erscheint, so wenig vermag sie indes in der Durchführung einzulösen, was sie im Prinzip verspricht. Was, verfahrenstechnisch betrachtet, ihre Stärke ist, daß sie nämlich die divergierenden empirischen Versionen vom gesuchten Wesen dazu bringt, sich aus eigenen Stücken und quasi automatisch auf konvergenzprozessuale Vergleichsverhandlungen einzulassen, das erweist sich, ergebnispraktisch gesehen, als ihre Schwäche, weil sie sich damit nämlich jeder Möglichkeit, dirigierenden Einfluß auf die Verhandlungen zu nehmen, begibt. Und um ein brauchbares Ergebnis der Verhandlungen zu erzielen, bedürfte es solcher methodischen Einflußnahme dirigierender oder korrektiver Natur in der Tat, da die im Bannkreis ihres Anspruchs auf Wesentlichkeit streitenden Parteien, die auf dem Boden ihrer nominellen Identität sich auseinandersetzenden empirischen Versionen vom Wesen eine unwiderstehliche Tendenz beweisen, die Vergleichsverhandlungen zum Verdrängungswettbewerb ausarten zu lassen und dadurch ad absurdum zu führen. Begründet ist diese Tendenz in einer systematisch angelegten eigentümlichen Disposition der empirischen Versionen vom Wesen, nämlich darin, daß die einzelnen Versionen nicht nur miteinander im Streit liegen und konkurrieren, sondern daß sie zugleich in einem regelrechten Konditionalverhältnis einander wechselseitig bedingen, daß sie sich also ebensosehr strukturell implizieren und aufeinander angewiesen bleiben, wie sie sich funktionell abstoßen und auszuschließen streben. Und diese gegenseitige Bedingtheit und wechselseitige Abhängigkeit der Wesensversionen, diese ihre Eigenart, bei aller subjektiv-expliziten Gegensätzlichkeit und Zerstrittenheit doch aber objektiv-implizit aufeinander bezogen und aneinander gebunden zu sein – sie wiederum hat ihren Grund in der realen Befindlichkeit und systematischen Verfassung derer, die die divergierenden Versionen zu ihrer Sache machen und verfechten, mithin darin, daß die politischen Parteien, die hinter den empirischen Versionen vom Wesen stehen und ihre Interessen durch sie repräsentiert finden, in die Länge und Breite ihres ökonomischen Tuns und sozialen Treibens eine ebenso radikal widersprüchliche wie fundamental unauflösliche Gemeinschaft bilden und nämlich jenes gespaltene Ganze der Polis darstellen, dessen Teile ebensosehr nach Kräften bemüht sind, sich gegenseitig das Wasser abzugraben und auf Kosten des jeweils anderen als Totalität zur Geltung zu bringen, wie sie sich schicksalhaft dazu verurteilt finden, im Zuge ihrer zu Lasten des anderen betriebenen Totalisierung diesen anderen nicht nur als einen seinerseits auf ihre Kosten nach Totalisierung strebenden Gegenspieler in Rechnung stellen, sondern – paradoxer und vielmehr perverser noch – sein gegenteiliges Streben nach Totalität als conditio sine qua non der eigenen Totalisierungsbemühungen gelten lassen zu müssen.

Wie gesehen, ist es der fundamentale Widerspruch, der die für die Polis konstitutive kommerzielle Funktion in actu ihrer kapitalen Akkumulationsstrategie heimsucht, daß sie durch solche Bereicherungsstrategie immer größere Gruppen des Volkes, mit dessen Hilfe sie ihre Strategie verfolgt, in Armut stürzt und daß sie, um den sozial und politisch verheerenden Folgen ihres ökonomischen Treibens zu wehren, gezwungen ist, in eklatanter Verkehrung ihrer eigenen und eigentlichen Intention Umverteilung zu betreiben, will heißen, zwecks Aufrechterhaltung der für eine Fortsetzung ihrer Kapitalakkumulationsstrategie nötigen sozialen und politischen Bedingungen ihrem ökonomischen Kalkül diametral zuwiderzuhandeln und Kapital zu diffundieren. Und wie gesehen, ist es der nicht minder fundamentale Widerspruch, an dem das auf kompensatorische Umverteilung dringende Volk krankt, daß es durch die Umverteilungspolitik den akkumulierten Reichtum, der sie ermöglicht, aufzehrt und daß es deshalb um der Aufrechterhaltung der Umverteilungspolitik willen an einer Fortsetzung eben der Akkumulationsstrategie interessiert sein muß, die ihm vor Ort der Polis wie auch seinesgleichen andernorts Not und Elend beschert und damit zum Anlaß wird, auf neue Umverteilungsmaßnahmen zu dringen, die wiederum weitere, Not bereitende und Elend verbreitende Akkumulationsanstrengungen voraussetzen beziehungsweise nach sich ziehen. In der Tat ist es dieser in der Struktur der kommerziellen Entwicklung und ihres schlecht unendlichen Akkumulationsmotivs angelegte zentrale Widerspruch, daß die Kapitalbildung letztlich mit einer ihr stracks zuwiderlaufenden Umverteilung bezahlt werden muß und daß die Umverteilung nur durch eine sie erneut und verstärkt nötig machende Fortsetzung der Kapitalbildung finanziert werden kann, daß also die durch das kommerzielle Prinzip hervorgetriebenen beiden Perspektiven der Polis, kapitale Bereicherung und soziale Versorgung, sich wechselseitig ebensosehr voraussetzen und bekräftigen wie durchkreuzen und zunichte machen, kurz, daß sie eine in der anderen gleichermaßen ihr Bestehen und ihre Vereitelung haben – dieser Widerspruch ist es in der Tat, der die Polis beherrscht und das Denken, Wollen und Handeln der streitenden Parteien durchdringt.

Was Wunder, daß dieser Widerspruch auch und nicht zuletzt in den Vorstellungen vom Wesen, zu deren Darstellung und Diskussion das von den Wesenssuchern ins Leben gerufene dialektische Forum Gelegenheit bietet, wiederkehrt und sich in ihnen als eine jede Vergleichsverhandlung hintertreibende, weil das zu Vergleichende je schon als eine unaufhebbar dynamische Polarität erweisende Organisationsstruktur zur Geltung bringt? Indem die vor den Schranken ihrer formellen Identität einander ins Gehege kommenden und mit dem Ziel einer Ermittlung ihres gemeinsamen Gehalts, eben des realen Wesens, zum Vergleich aufgerufenen Wesensversionen einander bloß erst zur Kenntnis nehmen, sorgt diese Organisationsstruktur mit dem durch sie gestifteten polaren Wechselwirkungsverhältnis dafür, daß bereits die bloße Kenntnisnahme, die faktische Wahrnehmung der Position des anderen jeden Vergleich, jedes Aufeinanderzugehen im Ansatz unterbindet, weil sie nolens volens die Anerkennung und Bestätigung der eigenen Position als für die Position des anderen grundlegenden Faktums und maßgebenden Faktors impliziert. So gewiß die um den Status der Wesentlichkeit streitenden Standpunkte nicht einfach nur nebeneinander koexistent, sondern durcheinander konditioniert, nicht einfach nur gegeneinander bestehend, sondern auseinander hervorgehend, kurz, nicht einfach nur topisch-divergente Aspekte, sondern dynamisch-reziproke Momente der Sache sind, so gewiß haben die gegnerischen Standpunkte in dem, wogegen sie stehen, zugleich ihr unabdingbares Gegenüber, den unverzichtbaren Garanten ihres eigenen Bestehens und muß also jedes Eingehen auf den entgegengesetzten Standpunkt, jede Bereitschaft, sich ihm anzunähern und sich mit ihm zusammenzuraufen, nolens volens dessen Unterminierung, der Demontage seines im Gegenüber bestehenden Fundaments und tragenden Grundes gleichkommen, mithin in letzter Instanz den als wechselseitige Entmotivierung der Standpunkte sich vollziehenden Zusammenbruch des Systems, seine im Spannungsausgleich, in der Annullierung aller Differenzen, perfekte Entropie zur Folge haben.

Durch ihren dynamisch-systematischen Verbund auf den Fleck eines ihnen als Seinsgrund unabdingbaren Wechselwirkungsverhältnisses gebannt oder, besser gesagt, in die Konfiguration einer reziproken Polarität verstrickt, können die divergierenden Standpunkte sich nicht aufeinander zu bewegen, ohne dem anderen den in der eigenen Position bestehenden grundlegenden Halt beziehungsweise maßgebenden Bezug zu verrücken oder gar zu verschlagen und ihn damit denn aber in die Krise oder vielmehr in den Abgrund seiner ohne den Halt im Gegenüber offenbaren Hinfälligkeit zu stürzen, sprich, den angestrebten Konvergenzvorgang in ein Konkursverfahren ausmünden zu lassen. Weit entfernt davon, daß zwischen den einander bestreitenden und doch zugleich in komplizenschaftlicher Polarität aufeinander bezogenen Standpunkten eine Annäherung, geschweige denn ein Vergleich, ein gemeinsames Mittleres, möglich wäre, gibt es zwischen den kraft des unverrückbaren Halts, den sie einander bieten, nolens volens an ihrer Konfrontation festhaltenden Positionen theoretisch – und das heißt, vor den Schranken des zur dialektischen Begegnung aufrufenden abstrakt gemeinsamen Wesens – nur den Kollaps, die in der Preisgabe des eigenen Standpunkts zum Zwecke der Einnahme einer mit dem anderen Standpunkt verträglicheren Position beschlossene Aufhebung dessen, was dem anderen Standpunkt seinen Halt gibt, und folglich Unterminierung eben jenes anderen Standpunkts, mit dem ein einvernehmlicheres Verhältnis erreicht werden soll. Aber vielmehr gibt es diesen Kollaps nicht einmal theoretisch, da ja die dialektische Selbstbetrachtung, eben die Theorie, zu der die Vertreter der praktischen Standpunkte aufgerufen sind, auf den Vergleich von Verschiedenem, die Konvergenz von Divergierendem, die Ermittlung eines gemeinsamen Wesens aus einander widerstreitenden Versionen vom Wesen programmiert ist und deshalb die Unabhängigkeit der divergierenden Standpunkte voneinander, ihre je eigene Objektivität unabdingbar voraussetzt, mit anderen Worten zwingend vorsieht, daß die zum Vergleich anstehenden verschiedenen Versionen die Geltung in sich gegründet alternativer Realitätsmodelle, eigenständiger Existenzweisen beanspruchen können: Wenn nun beim Versuch, durch Eingehen auf den Standpunkt des anderen, durch Annäherung an ihn, den Vergleich in die theoretische Tat umzusetzen, der andere Standpunkt ins Wanken gerät und sich verflüchtigt, so wird die Theorie, ehe sie ihre Grundüberzeugung von der Eigenständigkeit und getrennten Haltbarkeit der konkurrierenden Standpunkte aufgibt und einräumt, daß es sich bei ihnen um komplementäre, einander als solche bedingende und deshalb in die Unverrückbarkeit eines polaren Patt gebannte beziehungsweise nur um den Preis des Kollapses, eines Konkurses des ganzen Systems verrückbare Aspekte ein und derselben Objektivität handelt – wird also die Theorie, bevor sie ihre Grundvoraussetzung preisgibt, die Schuld eher bei sich, bei ihrer Vorgehensweise, ihrer Vergleichsmethode suchen und wird sich zuletzt auf die Ausgangsposition ihrer Annäherungsbemühungen, auf die unverändert bestehenden Standpunkte, zurückfallen lassen, um von ihnen aus einen neuen Vergleichsversuch zu unternehmen.

Weil indes die Standpunkte, die damit die Theorie als einfach nur divergierende Wesensbestimmungen, als voneinander unabhängige Ansichten vom Guten, erneut voraussetzt und die sie zur Konvergenz bewegen, die sie gesprächsweise zur Einsicht des nach Maßgabe seiner Übereinstimmung und Gemeinsamkeit wirklichen Wesens und wahren Guten kommen lassen will – weil diese Standpunkte sind, was sie sind, nämlich kommunizierende Aspekte ein und derselben Totalität, deren Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit aus einer fundamentalen Komplizenschaft hervorgeht und deren grundlegend komplizenschaftliches Verhältnis sich partout nur in solcher Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit Ausdruck verschaffen kann – weil das so ist, kann auch der neue Vergleichsversuch nicht anders enden als der vorangegangene. Die Theorie, die der konfrontativ-konflikthaften Praxis mittels dialektischer Methode, das heißt, dadurch, daß sie die Standpunkte gesprächsweise aufeinander eingehen und sich vergleichen läßt, auf die Sprünge einer dennoch möglichen Vermittlung und Vereinbarkeit helfen will, kann mit anderen Worten am Ende nichts weiter, als die praktischen Verhältnisse in ihrer unverrückbar konfrontativen Konflikthaftigkeit zu reaffirmieren und also Zeugnis davon abzulegen, daß es wie zwischen den praktisch konkurrierenden Parteien, so auch zwischen den theoretisch diskutierten Standpunkten kein mittleres Allgemeines, keine als das reale Wesen zu ermittelnde gemeinsame Plattform gibt, auf die man sich einigen, geschweige denn stellen könnte, weil wie bei den praktisch streitenden Parteien, so auch bei den theoretisch thematisierten Standpunkten die konflikthaft manifeste Konfrontation Ausdruck einer komplizenschaftlich latenten Übereinkunft, die lauthals disruptive politische Unverträglichkeit Konsequenz eines stillschweigend bindenden gesellschaftlichen Vertrages ist und weil deshalb jeder Versuch, die Konfrontation durch Vergleich zu beenden und eine Annäherung der Standpunkte beziehungsweise ihre schließliche Übereinstimmung zu erreichen, eine Aufkündigung jener die Standpunkte ebensosehr haltenden, wie auseinanderhaltenden latenten Übereinkunft, sprich, einen Bruch jenes die Parteien ebensosehr polarisierenden wie bindenden stillschweigenden Vertrages implizierte, mithin aber auf einen Zusammenbruch des ganzen Systems und das heißt, auf eine Auflösung eben der Parteien beziehungsweise Erledigung eben der Standpunkte hinausliefe, um deren Vermittlung und Vergleichung es doch gerade ginge – weil also, kurz, das Aufeinanderzugehen der Parteien und die Annäherung der Standpunkte nur unter der Bedingung ihrer Abdankung und Abschaffung Ereignis werden könnte – ein Ereignis, das in einer Situation, in der die Parteien vielmehr die bei aller gegenseitigen Bestreitung unbestrittenen Herren der Stadt und ihre Standpunkte die unbefragte Grundlage jeder Diskussion sind, ebenso theoretisch unvorstellbar wie praktisch ausgeschlossen ist.

Auch der Versuch, die dialektische Theorie zu nutzen, um die Standpunkte wenn schon nicht zum wesensfündig gemeinsinnigen Vergleich, so immerhin doch zur konfliktvermeidend wechselseitigen Anerkennung zu bewegen, schlägt fehl, weil die Konkurrenzsituation aus dem Anerkennungsverfahren eine Überführungsveranstaltung, aus der Dialektik die Sophistik werden läßt. Diese wird anfangs von der Politik als Kampfmittel aufgegriffen, aber bald schon als Taschenspielertrick durchschaut und fallengelassen.

Mittel eines Konvergenzverfahrens, einer Vergleichung und Rückführung der divergierenden Standpunkte auf ein als gemeinsames Anliegen realisiertes, zum mittleren Allgemeinen konkretisiertes Wesen, kann also die auf dem Gesprächswege, als dialektische Methode, betriebene Theorie derer, die sich zwecks Wiedergewinnung von Gemeinsinn der Wesenssuche verschrieben haben, nicht sein.

Vor der brutalen Tatsache, daß die in Form einer manifest wesenhaften Übereinstimmung vorgestellte Gemeinsamkeit, zu der die konkurrierenden Standpunkte bewogen werden sollen, bereits das in der Unform latenter Komplizenschaft die Standpunkte in all ihrer Konkurrenzhaftigkeit Begründende ist, muß jeder als dialektische Theorie, als gesprächsweise Wesenswahrnehmung, unternommene Annäherungs- und Ausgleichsversuch im Ansatz bereits scheitern. Aber wenn schon, weil die Standpunkte das in actu ihrer manifesten wechselseitigen Bestreitung und Verwerfung latent einander Begründende und sich gegenseitig Haltende sind, die dialektische Suche nach dem Wesen, die Theorie, keine Annäherung und Vergleichung zwischen ihnen zustande zu bringen vermag, so scheint sie doch immerhin tauglich, dafür zu sorgen, daß die Standpunkte sich nicht gar zu weit voneinander entfernen, gar zu stark einander entfremden, und dadurch die ihrem latenten Wechselwirkungsverhältnis, ihrem polarisierten Verbundsystem immanente Gefahr laufen, mit aller, ihrer Entfernung proportionalen Wucht aufeinander zurückzuschlagen und sich in blinder Reaktivität, in unkontrollierter Konfliktträchtigkeit gegeneinander geltend zu machen. Schließlich ist die Form konkurrenzhafter Entgegensetzung, in der die komplizenschaftliche Bezogenheit der Standpunkte, ihre latente Abhängigkeit voneinander, Ausdruck findet, keine einfache topische Konfrontation, sondern eine durchaus dynamische Konfliktsituation, kein stabilisiert kontinuierlicher Pattzustand, sondern Fall einer eskalierenden Polarisierung.

Das heißt, wie die um die Polis streitenden Parteien selbst, tendieren auch ihre das Wesen der Gemeinschaft betreffenden Standpunkte dazu, durch den komplizenschaftlich polarisierten Selbstbehauptungsgestus, in dem sie befangen sind, aufgrund der Tatsache mit anderen Worten, daß jede Aufrüstung und Stärkung der einen Seite nolens volens dem Aufbau und der Nachweis der Dringlichkeit der in polarer Wechselwirkung mit ihr stehenden anderen Seite dient, die Spannung ständig zu erhöhen und den Konflikt zunehmend anzuheizen. Je rücksichtsloser, will heißen, hinsichtlich ihrer Bedingtheit durch die Existenz des polaren Gegenüber selbstvergessener, die Parteien sich in Szene setzen und ihre Standpunkte forcieren, ihre Versionen vom wahren Wesen der Gemeinschaft in die Tat umzusetzen suchen, um so mehr wächst die Gefahr, daß sie den Bogen überspannen, daß sie ebenso unabsichtlich wie zielstrebig den konkurrenzförmigen Widerstreit, in dem ihre komplizenschaftliche Korrespondenz sie verhält, auf jene Spitze treiben, wo er die Form einer durch kein Bewußtsein der Korrespondenz mehr gemäßigten oder gesteuerten Sezession und die ihn haltende Korrespondenz deshalb den zerstörerischen Charakter eines bewußtslos-reaktiven Zwangsmechanismus, sprich, eines die rücksichtslosen Kontrahenten zum explosiven Zusammenprall treibenden naturwüchsigen Konflikts annimmt. So gewiß die Konfrontation der Parteien und ihrer Standpunkte darauf angelegt ist, sich über die in ihr Ausdruck findende und sie prägende Komplizenschaft als über eine lästige Schranke hinwegzusetzen und eine Dynamik zu entwickeln, in der die Beteiligten sich als einander wechselseitig bedingendes Gegenüber vollständig aus den Augen verlieren und nurmehr in der Gestalt eines im Interesse der eigenen freien Entfaltung nach Möglichkeit aus der Welt zu schaffenden Widerparts gewahren, so gewiß droht die Situation früher oder später zu entgleisen und entspannbar oder auflösbar nurmehr im Sinne einer als letzte Abrechnung zelebrierten gegenseitigen Zerstörung zu werden.

Und diese Gefahr des irreparablen Zerwürfnisses, des vollständigen Sichauseinanderlebens, sie ist es nun, die der als politische Gesprächstherapie wohlverstandenen dialektischen Theorie dennoch eine Funktion zu geben und der die letztere nämlich erfolgreich entgegenwirken zu können scheint. Und zwar scheint sie der Gefahr der zum offenen Konflikt ausartenden allzu großen Entfernung der Standpunkte durch ein und denselben Umstand steuern zu können, der sie andererseits daran hindert, auch nur die geringste Annäherung zwischen ihnen zustandezubringen – den Umstand der wechselseitigen Bedingtheit der Standpunkte, der gleichermaßen grundlegenden und haltgebenden Bedeutung, die sie füreinander haben. Diese wechselweise konstitutive Bedeutung, die ein Standpunkt für den jeweils anderen hat, ist es, was die Standpunkte auf ihren Fleck bannt, was sie zwingt, in der Konfrontation auszuharren, und was jeden Vergleich und jede Einigung zwischen ihnen sogar theoretisch undenkbar werden läßt. Weil der eine Standpunkt den anderen, in dem er sein polares Gegenüber, seinen streitbaren Widerpart hat, in Wahrheit als die Bedingung der Möglichkeit seiner selbst voraussetzt, als die eigene Existenzgrundlage objektiv impliziert, und weil eben darin die als Widerstreit sich artikulierende latente Übereinkunft beider besteht, kann jede Bereitschaft des anderen, den einen als seinesgleichen anzuerkennen und zwecks Vergleichs auf ihn zuzugehen, diesen nur der Bedingung seiner Möglichkeit berauben, ihm seine Existenzgrundlage verschlagen – sie muß mit anderen Worten, indem sie die im Widerstreit bestehende latente Übereinkunft zugunsten einer durch Vergleich zu erzielenden manifesten Einigkeit zur Disposition stellt, den tatsächlich nur im Rahmen jener konfrontativen Übereinkunft lebensfähigen Positionen den Boden entziehen und den Zusammenbruch des ganzen Systems, den erwähnten Kollaps heraufbeschwören.

Aber sosehr der eine Standpunkt den jeweils anderen auf den Fleck bannt, ihn als Garanten der eigenen Existenz, als haltgebenden Gegenpol zwangsverpflichtet, so sehr ist er doch kraft der Dynamik ihres komplizenschaftlichen Konkurrenzverhältnisses seinerseits darauf aus, sich seiner entsprechenden Verpflichtung dem anderen gegenüber zu entziehen und sich ohne Rücksicht auf letzteren und in der Tat auf dessen Kosten frei zu entfalten und vielmehr haltlos zu totalisieren. Das heißt, er betreibt jene geschilderte Entfernung und Entfremdung vom anderen, jene rücksichtslos-selbstsüchtige Polarisierung, die dank der komplizenschaftlichen Untrennbarkeit der Standpunkte letztlich in ihren reaktiven Zusammenprall, ihre konflikthafte Kollision umschlagen muß.

Und es ist diese selbstvergessen-selbstsüchtige Polarisierungsneigung der Standpunkte, der mittels Erinnerung an ihre unauflösbar wechselseitige Bedingtheit, ihre konstitutive Abhängigkeit voneinander, entgegenzuwirken, eine der dialektischen Theorie angemessene Aufgabe scheint. Kann die Theorie die Standpunkte wegen deren gegenseitiger Grundlegungs- und Haltgebungsfunktion schon nicht dazu bringen, sich aufeinander zuzubewegen und sich zu einer übereinstimmenden Version vom Wesen miteinander zu verbinden, so kann sie diese konstitutive Funktion der Standpunkte füreinander doch immerhin geltend machen, um den letzteren ihren Charakter eines in aller Entgegensetzung unlösbaren Verbundsystems vor Augen zu führen und sie davon abzuhalten, sich gar zu weit auseinanderzubewegen und die beschriebene Gefahr einer konfliktträchtigen Überspannung ihres Verhältnisses zu laufen. Sorgt schon die latente Eintracht, die in aller manifesten Zwietracht die Standpunkte beweisen, die paradox komplizenschaftliche Art, wie die Standpunkte bei jedem Versuch, sich über den jeweils anderen hinwegzusetzen und sich auf seine Kosten zu verwirklichen, ihn doch zugleich als unabdingares Sprungbrett und als Bedingung der Möglichkeit solch eigener Wirklichkeit voraussetzen – sorgt also schon diese einträchtige Zwietracht der Standpunkte dafür, daß die Theorie ihr eigentliches Anliegen, die Standpunkte zu einem Konvergenzverfahren mittels Gespräch zu bewegen und in einem mittleren Allgemeinen zusammentreffen, in einer gemeinsamen Sicht vom Wesen übereinkommen zu lassen, nur in Form eines konkursiven Kollapses des ganzen polaren Systems in die Tat umzusetzen vermöchte und mithin auf der ganzen Linie scheitert, so scheint dies Moment von Eintracht in der Zwietracht, dies komplizenschaftliche Aufeinander-angewiesen-sein in der konkurrenzförmig wechselseitigen Bestreitung, wenn zur rechten Zeit zu Bewußtsein gebracht und geltend gemacht, doch immerhin geeignet, einer in besinnungsloser Eigensucht durchgesetzten Verabsolutierung der Standpunkte und der in solchem Zerwürfnis beschlossenen Gefahr einer Reklamation ihrer tatsächlichen Relativität im naturwüchsig-blinden Modus explosiven Kollidierens vorzubauen, und scheint hier der dialektischen Theorie ein zwar im Anspruch bescheideneres, deshalb aber nicht weniger sinnvolles Betätigungsfeld vorgezeichnet.

Indes, nicht einmal zur Erfüllung dieses bescheideneren Programms zeigt sich die von den Wesenssuchern als dialektische Auseinandersetzung der divergenten Standpunkte inszenierte Theorie imstande. Was sie an der Programmerfüllung hindert, ist die gleiche einschränkende Bedingung ihrer Wirksamkeit wie vorher, nämlich das Fehlen jeden, die Versionen vom Wesen, die die Standpunkte im Schilde führen, transzendierenden und nicht schon im generischen Namen der Sache, auf den sich alle berufen, aufgehenden, sondern als ein real Gemeinsames, als konkrete Gattung vorgegebenen und im Sinne eines verbindlich objektiven Maßstabes reklamierbaren Begriffs vom Wesen – ist mit anderen Worten oder negativ ausgedrückt der Umstand, daß die Theorie wie zuvor, beim eigentlich intendierten Identitätsvergleich und Einigungsakt, so auch jetzt, beim immerhin vorgesetzten Anerkennungsvertrag und Toleranzabkommen, die Initiative ganz und gar den ins Gespräch verwickelten Standpunkten selbst überlassen und ihnen, denen sie nichts als den formellen Rahmen, das Forum, für die gesprächsweise Auseinandersetzung bieten kann, vollständig anheimstellen muß, wieweit sie über den Schatten ihrer partikularen Version vom Wesen und des damit verknüpften privativen Interesses zu springen imstande oder auch bereit sind.

Im Blick auf den eigentlich intendierten Vergleich hat, wie gesehen, dieser Umstand der zu völliger Eigeninitiative verhaltenen und durch keinen objektiven Begriff vom Wesen disponierten Auseinandersetzung zur Folge, daß die Standpunkte Spielball ihrer wechselseitigen Bedingtheit und polaren Abhängigkeit sind und, weil sie sich durch den jeweils anderen Standpunkt auf den Fleck gebannt und in die Rolle eines unabdingbar konstitutiven Gegenübers gedrängt finden, in der Tat nicht einen Schritt aufeinander zu tun können und jeden ihnen theoretisch angesonnenen Annäherungsversuch ad absurdum eines in praxi höchstens und nur dem jeweils anderen Standpunkt den Boden entziehenden und damit die ganze Struktur zum Einsturz bringenden Unterfangens geführt finden. Hinsichtlich des statt dessen vorgesetzten bescheideneren theoretischen Programms einer zwischen den Standpunkten zu erzielenden relativen Verträglichkeit und gegenseitigen Anerkennung, das jene die Annäherung kategorisch verhindernde Wechselwirkungsstruktur und reziproke Polarität den Standpunkten zu Bewußtsein bringen und auf diese Weise nutzen will, die ihnen innewohnende Verselbständigungs- und Totalisierungsdynamik unter Kontrolle zu halten und der solcher Dynamik entspringenden Tendenz zur konfliktträchtigen Sezession Einhalt zu gebieten – hinsichtlich dieses bescheideneren Programms aber wirkt sich nun der Umstand der den Standpunkten selbst ohne dirigierende Einflußnahme überlassenen Initiative nicht weniger fatal aus, indem er nämlich dafür sorgt, daß sich eben die praktische Totalisierungsdynamik, der durch den theoretischen Nachweis des wechselseitigen Aufeinanderangewiesenseins der Standpunkte gewehrt werden soll, im Nachweis selbst als Versuch der Standpunkte, sich gegenseitig über den Tisch zu ziehen und in den jeweils anderen zu überführen, geltend macht und durchsetzt.

Befangen in der konkurrenzhaften Konfrontation und streitbaren Parteilichkeit, die sie ins Gesprächsforum der dialektischen Wesenssuche mitbringen, nehmen die Standpunkte zwar die ihnen qua Gesprächsforum, qua abstrakte theoretische Rahmenbestimmung angesonnene und dem Minimalziel eines Anerkennungsvertrages und Toleranzabkommens gewidmete Aufgabe an, sich wechselseitig ihrer konstitutiven Bedeutung füreinander zu versichern, sich gegenseitig klar zu machen, wie sehr sie einander voraussetzen und bedingen; aber weil sie es in all ihrer Streitbarkeit und Parteilichkeit sind, denen demnach die Aufgabe überlassen bleibt, gerät diese zwangsläufig ins Kraftfeld des Konkurrenzverhältnisses, in dem sie befangen sind, und findet sich darin zu dem Bestreben pervertiert, die Anerkennung zur Kapitulation geraten zu lassen und nämlich die Bedingtheit des einen durch den anderen Standpunkt zu nutzen, um dem einen den anderen als sein eigen Ding, seine wohlverstandenen Wahrheit und wirkliche Identität vorzustellen. Sich dialektisch auf den jeweils anderen Standpunkt stellend, seine Version vom Wesen zur Kenntnis und zum Ausgangspunkt des Gespräches nehmend, nutzen die Standpunkte die strukturelle Tatsache ihrer konstitutiven Abhängigkeit voneinander, nicht um den anderen auf sein unabdingbares Gegenüber rückzubeziehen und damit seiner Verselbständigungs- und Totalisierungsdynamik vorzubauen, sondern um ihn in dies Gegenüber als in das, was er eigentlich ist, zurückzunehmen, ihn dieser conditio sine qua non seiner selbst als seiner wahren Identität zu überführen und ihn damit in der unmittelbaren Bestimmtheit, in der er eingangs zur Kenntnis genommen wird, am Ende ebensowohl zu widerlegen und zur Gänze abzutun. Sich durch den theoretischen Nachweis der Angewiesenheit und Relativität des jeweils anderen Standpunkts auf den eigenen gegen dessen praktische Verselbständigungs- und Verabsolutierungstendenz verwahrend, nutzen die den Nachweis Führenden ihrerseits die Gelegenheit, den eigenen Standpunkt theoretisch zu verselbständigen und zu verabsolutieren und nämlich, statt mit seiner Hilfe den anderen in seine Schranken zu weisen, will heißen, als vom eigenen abhängige Größe, als im Verhältnis zu ihm bestimmte Wirklichkeit, dingfest zu machen, vielmehr durch ihn den anderen überhaupt aus dem Felde zu schlagen, will heißen, den anderen in den eigenen als in seinen funktionellen Ausdruck, seine wahre Bestimmung, zu transformieren und aufzulösen.

Der Dynamik der konfrontativen Situation gehorchend, setzen sie die praktische Auseinandersetzung mit theoretischen Mitteln fort und lassen aus der Aufgabe, den anderen zur Anerkennung der in ihm selbst beschlossenen Unabdingbarkeit seines Gegenübers zu bewegen, das Bemühen werden, den anderen zum Offenbarungseid der in seinem Gegenüber ihm begegnenden Wahrheit seiner selbst, sprich, zur Selbstaufgabe im Gegenüber zu bringen. Sei's daß der andere Standpunkt, indem er gesprächsweise vorgeführt bekommt oder dialektisch erfährt, daß seine Version vom Wesen die entgegengesetzte Version je schon stillschweigend voraussetzt und als Bedingung der Möglichkeit ihrer selbst impliziert, sich dadurch veranlaßt sieht, diese entgegengesetzte Version zu seiner eigenen Sache zu machen und als die Wahrheit seiner selbst zu übernehmen, sprich, sich selbst aufzugeben und zum entgegengesetzten Standpunkt zu konvertieren, sei's daß diese Erfahrung den anderen immerhin ausreichend düpiert, um ihn mundtot zu machen und seinem Gegenüber die ungehinderte Entfaltung und Durchsetzung nicht nur vor dem dialektisch-theoretischen Forum, sondern am Ende dann auch im der praktisch-politischen Arena zu ermöglichen – so oder so ist die Theorie nicht, wie von den Wesenssuchern ursprünglich beabsichtigt, dazu da, vor den Schranken des gesuchten Wesens die in der Praxis einander konfrontierenden und zur konfliktträchtigen Eskalation ihres Widerstreits neigenden Standpunkte zum Vergleich oder jedenfalls zur Verträglichkeit zu bewegen, sondern dient nurmehr dem Zweck, dem Arsenal der praktisch-politischen Streitkultur ein weiteres Kampfmittel zur Verfügung zu stellen. Aus dem Vorbauen, dem Bemühen, die Verabsolutierung des gegnerischen Standpunktes zu verhindern, wird so ein Widerlegen, ein Versuch, den gegnerischen Standpunkt zur Selbstaufgabe zu veranlassen, aus der Dialektik, der Kunst, wenn schon nicht der Einigung, so jedenfalls doch der Relativierung, wird die Sophistik, die Kunst der Vereinnahmung und der Überführung, kurz, es tritt ein, was oben bereits als Resultat der Wesenssuche auf den Begriff gebracht wurde: aus den gegen alle politische Praxis von den Wesenssuchern intendierten Vergleichsverhandlungen wird ein als theoretisches Pendant zur politischen Praxis inszenierter argumentativer Verdrängungswettbewerb.

Weil die sophistische Auflösung der dialektischen Theorie der politischen Praxis in die Hände arbeitet und ihrer Konfrontationssucht und Streitlust entgegenkommt, wird sie von ihr dankbar aufgenommen und als ein nützlicher Beitrag zum politischen Alltag in der Stadt gewürdigt. Dies um so mehr, als ja das sophistische Theoretisieren der praktischen Auseinandersetzung vorauszuhaben scheint, daß es die gegnerische Position ohne die Anwendung ökonomischen Drucks, politischen Zwangs oder militärischer Gewalt aus dem Weg zu räumen beziehungsweise zur Kapitulation zu bewegen versteht, daß es also im Unterschied zur Praxis deren Arbeit unblutig und mit bloßer Geisteskraft zu verrichten vermag. Indem sie vor dem Forum einer formellen Wesens- und Wahrheitssuche nurmehr dazu dient, dem einen Standpunkt nachzuweisen, daß er in Wahrheit der andere ist, und ihn durch solche Überführung zu widerlegen oder jedenfalls mundtot zu machen, kurz, ihn mehr oder minder aus dem Felde zu schlagen, ist die sophistische Theorie die bessere, weil mit weniger Aufwand den gewünschten politischen Effekt erzielende Praxis. Ihre Stärke indes, daß sie den angestrebten politischen Effekt mit bloßer Geisteskraft, bloß per spiritum, mit bloßer Theorie, erzielt, erweist sich zugleich als die Schwäche der sophistischen Theorie, daß sie den Effekt nämlich bloß in spiritu, bloß theoretisch, nicht tatsächlich, nicht in effectu erringt.

Ihren unblutigen, durchschlagenden Triumph verdankt sie dabei einer Täuschung, nämlich dem Trick, daß sie die beiden Seiten der wechselseitigen Abhängigkeit der Standpunkte voneinander, die beiden Aspekte ihres konstitutiven Wechselwirkungsverhältnisses auseinanderreißt und den einen geltend macht, während sie den anderen unterschlägt. Nicht, daß sie den einen Standpunkt des anderen überführt, den letzteren als die Wahrheit, die wohlverstanden eigene Identität des ersteren dingfest macht – nicht darin besteht der Betrug der sophistischen Theorie, sondern daß sie davon absieht, wie sicher der eine Standpunkt in dem anderen, dessen er sich überführt findet, zugleich aufgehoben ist und wie leicht es hält, den anderen nun umgekehrt des einen, den er in eigener Position wahrt, als seiner wohlverstandenen Wahrheit, seiner eigentlichen Identität zu überführen – dies Absehen ist die List, deren sich die sophistische Theorie bedient, um zum Erfolg zu kommen, und die ihren Triumph im Zweifelsfall als einen Pyrrhussieg decouvriert. Was im Sinne der Überführung des einen in den anderen Standpunkt in einer Richtung vollzogen wird, das bleibt ebensogut in der anderen, von der sophistischen Theorie nur vorübergehend ausgeblendeten, Richtung möglich; das eine, das sich kraft Sophismus als die Wahrheit des anderen an dessen Stelle setzt, steht dem gleichen sophistischen Mechanismus jederzeit zur Verfügung, um das andere als seine eigene Wahrheit wiedererstehen und umgekehrt an seine, des einen, Stelle treten zu lassen.

So gesehen erschöpft sich die sophistische Theorie in Spiegelfechtereien, erringt sie Scheinsiege, bei denen sie die Struktur wechselseitiger Abhängigkeit und objektiver Konspiration der Standpunkte nutzt, um den einen oder anderen von ihnen in seinem Bewußtsein konkurrenzhafter Gegensätzlichkeit, seiner Haltung subjektiver Konfrontation zu diskreditieren oder jedenfalls zu düpieren, ohne daß – weil ja die objektive Konspiration, durch deren Vorweis sie die Standpunkte sich ihre Haltung subjektiver Konfrontation gegenseitig austreiben läßt, diese Haltung je schon vorweg allen Standpunkten als logische Konsequenz ihres konspirativen Bestehens eingibt und weil deshalb logischerweise der von den Standpunkten unternommene scheinbare Versuch zur Auflösung der Konfrontation tatsächlich nur eine Fortsetzung der Konfrontation mit anderen Mitteln ist – sich durch solch theoretische Eskamotage am praktischen Fortbestand der in ihrem polaren Gegensatz einander immer neu hervortreibenden Standpunkte ein Jota änderte. Und weil das so ist, weil der sophistische Triumph des einen über den anderen Standpunkt eine Eskamotage, ein Taschenspielertrick bleibt, den der theoretisch triumphierende eine Standpunkt selbst als solchen entlarvt, indem er den in ihn überführten anderen Standpunkt in praxi gleich wieder als anderen reproduziert und als conditio sine qua non seiner selbst, als seine eigene, außer sich seiende Wahrheit seinerseits voraussetzt – weil das so ist, verliert die politische Praxis das Interesse an der sophistischen Theorie und überläßt diese, nachdem sie eine Weile mit ihr Politik zu machen versucht hat, sich selbst und ihren als fruchtlose Spielerei durchschauten Argumentationen.

Die sophistische Streitkultur nimmt eine sokratische Wendung, indem das Ziel nicht mehr das Überführen, sondern das reine Widerlegen der Standpunkte, nicht mehr der Vorweis der allemal gegenteiligen Wahrheit, sondern der Nachweis des je eigenen Widerspruches ist. Der weitere Übergang von der sokratischen Eristik zur platonischen Maieutik besteht allerdings nicht sogleich darin, daß Standpunktslosigkeit des Subjekts als Ausweg gepredigt, sondern daß die ausweglos objektive Bedingtheit der Standpunkte angeprangert wird.

Damit aber scheint nun in der Tat der von den Wesenssuchern in Form einer dialektischen Diskussion unternommene Versuch, die Parteien der Polis ihre divergenten Versionen vom Wesen vergleichen und abklären und im Sinne der Ermittlung eines konzeptionellen Grundbestandes, eines allen gemeinsamen Vorstellungssubstrats, zu einem verbindlichen Begriff vom Wesen konvergieren zu lassen, sein unrühmliches Ende gefunden zu haben. Wegen ihrer zutiefst polaren Struktur, ihrer in aller streitbaren Divergenz und Entgegensetzung wechselseitigen konstitutiven Bedingtheit und Abhängigkeit voneinander, unfähig, auch nur einen Schritt aufeinander zuzutun, und wegen des dynamischen Charakters dieser polaren Struktur, wegen der den wechselseitig Bedingten qua Streitbarkeit eigenen Tendenz, sich ihrer Bedingtheit vielmehr einseitig zu entschlagen, nicht einmal imstande, eine in der Anerkennung der Unabdingbarkeit des jeweils anderen bestehende äquilibristische Stabilität zu erreichen, verstricken sich die Standpunkte bei dem ihnen von den Wesenssuchern angesonnenen Versuch, sich miteinander ins Benehmen zu setzen, vielmehr in sophistische Überrumpelungs- und Überführungsstrategien, in eine wegen des anfänglichen Interesses, das die Praxis an ihnen nimmt, nicht zwar unbedingt brotlose, jedenfalls aber fruchtlose Kunst des Sich-über-den-Tisch-ziehens, die sich zwar als Fortsetzung der Praxis mit anderen, nämlich theoretischen, Mitteln erweist, die deshalb aber, weil sie die polare Struktur, die sie durch Reduktion des einen auf den anderen Standpunkts theoretisch aufzulösen verspricht, als irreduzibel praktische Gegebenheit je schon voraussetzen muß, um sie auf diese Weise auflösen zu können, weil sie mit anderen Worten in der theoretischen Aufhebung praktisch bekräftigt, was sie theoretisch aufhebt – die deshalb also eine an der Realität keinen Deut ändernde imaginative Spielerei bleibt und von der Praxis schließlich als das, was sie ist, als bloßes Hin- und Hergerede, bloße sophistische Spiegelfechterei und Wortklauberei, kurz, als bloße Theorie, sich selbst überlassen wird.

Sich selbst überlassen und weder als ein die Konflikte der Praxis mit eigenen Mitteln zu lösen bestellter ehrlicher Makler noch als eine die Geschäfte der Praxis mit anderen Mitteln zu betreiben geeignete Hilfsfunktion mehr ernst, geschweige denn in Anspruch genommen, hat aber nun die dialektische Theorie Zeit und Gelegenheit zur Manöverkritik. Durch keinen unmittelbaren gesellschaftlichen Auftrag mehr in Trab gehalten und vielmehr zum Müßiggang eines aller maßstäblichen Bedeutung für die politische Praxis baren Zeitvertreibs verurteilt, können die theoretisierenden Wesenssucher Nachlese halten, können sie sich Gedanken darüber machen, was an dem zwecks Ermittlung des wahren Wesens der Gemeinschaft, zwecks Wahrnehmung einer Polis, die diesen Namen wirklich verdient, angestrengten dialektischen Prozeß, an der Situation einer vor den Schranken des abstrakt gemeinsamen Begriffs vom Wesen zwecks inhaltlicher Konkretisierung des Begriffs inszenierten gesprächsweisen Auseinandersetzung systematisch falsch ist oder was, besser gesagt, die vor die Schranken des abstrakt gemeinsamen Wesensbegriffes zitierten und dort sich selbst überlassenen divergierenden Standpunkte mit ihren je eigenen Versionen vom Wesen systematisch unfähig macht, des objektiv wahren Wesens sich zu versichern und es als maßgebenden Bezugspunkt und verbindliches Anliegen ins Auge zu fassen. In der Absicht, dem in die Länge und Breite der sophistischen Überführungs- und Widerlegungspraxis erwiesenen Unvermögen der interessierten Standpunkte zur allgemeinen, objektiven und verbindlichen Wesenserkenntnis – von Wesensanerkenntnis ganz zu schweigen! – auf den Grund zu gehen, spielen die Wesenssucher noch einmal zum Spaß durch, was vorher allen Ernstes praktiziert wurde, führen sie noch einmal in experimenteller Form oder in gestellter Inszenierung vor, was vorher die Standpunkte mit realem Engagement und in eigenständiger Konfrontation exerzierten: die sophistische Kunst des Widerlegens durch Überführen, sprich, die auf der Grundlage ihrer wechselseitigen Abhängigkeit voneinander und konstitutiven Bedeutung füreinander von den Standpunkten selbst geübte Kunst, den jeweils anderen dadurch zur Konversion zu bewegen oder jedenfalls mundtot zu machen, daß ihm sein konfrontatives Gegenüber, das, wogegen er seine Version vom Wesen als die Wahrheit des Wesens behauptet, vielmehr als die Wahrheit dieser Wahrheit deutlich gemacht, ihm mit anderen Worten nachgewiesen wird, wie zwangsläufig seine Version vom Wesen zur Wesensversion des Gegenüber führt und in ihr resultiert, wie sehr sie in der Tat in letzterer ihr wahres Bestehen, ihre wohlverstandene Sichselbstgleichheit hat.

So gesehen, fangen also die Wesenssucher mit der als unpolitischer Zeitvertreib, als praxisferne Inszenierung wiederaufgenommenen dialektischen Theorie gar nichts anderes an als zuvor die Sophistik, setzen sie das sophistische Tun in ihrer zur Spielwiese degradierten Gesprächsrunde einfach nur fort – mit dem einzigen, kleinen Unterschied, daß sie jetzt ihre bis dahin geübte Neutralität und Zurückhaltung aufgeben, aus ihrer bisherigen Rolle des bloß ehrlichen Maklers heraustreten und die aktive Leitung der dialektischen Diskussion übernehmen und daß sie kraft der tatkräftigen Regie, zu der sie sich nun verstehen, dem an sich nur beibehaltenen sophistischen Widerlegen durch Überführen eine entscheidend neue Richtung, eine zu Ehren des Hauptrepräsentanten dieser Neuinszenierung des sophistischen Gesprächs als sokratisch zu bezeichnende Wendung geben. Solange das theoretische Widerlegen durch Überführen ausschließlich den Standpunkten selbst überlassen und also ein vom praktischen Interesse diktierter Verdrängungswettbewerb bleibt, liegt der Akzent auf dem positiven Überführen und ist das negative Moment des Widerlegens bloß Verfahrensmoment, bloß die allgemeine Form, in der das neue, positive Resultat erzielt wird. Indem der eine Standpunkt sich argumentativ widerlegt und nämlich des anderen, gegenteiligen Standpunktes als seiner Wahrheit überführt findet, hört er zwar als solcher auf zu existieren; aber eben weil er sich unmittelbar des anderen überführt, in diesem als in seiner eigenen Wahrheit, seiner Sichselbstgleichheit zu sich gekommen findet, setzt er sich ebensowohl als der andere fort, koinzidiert die qua Widerlegen vollstreckte Negation seines alten, vermeintlich eigentümlichen Bestehens mit der qua Überführen vollbrachten Reaffirmation seiner neuen, in Wirklichkeit gegenteiligen Identität. So gesehen, verändert und destruiert das Widerlegen durch Überführen die jeweiligen Positionen nicht, sondern läßt sie nur umschlagen und kurzerhand andere werden; es erweist die durch sie kultivierten Versionen vom Wesen nicht als nichtig, sondern weist ihnen nur eine andersartige Beschaffenheit, eine gegensätzliche Bestimmtheit nach. Und das liegt ja auch, wie seiner faktischen Möglichkeit nach in der polaren Struktur, so seiner praktischen Wirklichkeit nach in der intentionalen Logik der argumentierenden Standpunkte, die ja nicht einfach nur ihr jeweiliges Gegenüber und dessen Version vom Wesen ad absurdum führen und zugrunde richten, sondern vielmehr sich an seiner Stelle behaupten und sei's mit seiner erklärten Zustimmung, sei's mit seiner stillschweigenden Duldung ihre Version vom Wesen zu uneingeschränkter Geltung bringen wollen, deren von systemimmanenten, praktischen Bestrebungen und nicht etwa von systemkritischen, theoretischen Erwägungen diktierte Absicht es also ist, nicht bloß negativ dem anderen seine prinzipielle Unwahrheit nachzuweisen und ihn für absolut nichtig zu erklären, sondern durchaus positiv sich als die ultimative Wahrheit des anderen in Szene zu setzen und diesen damit zu einer als Gebot der Selbsterhaltung, der Bewahrung vor dem eigenen Nichts durch Zuflucht im fremden Sein angenommenen Konversion oder jedenfalls Kapitulation zu zwingen.

Genau hier aber geben nun die in die dialektische Auseinandersetzung aktiv eingreifenden, Regiefunktion in ihr übernehmenden Wesenssucher der Sache die als sokratische Wendung apostrophierte neue Stoßrichtung. Was sie tun, ist einfach genug: Sie rufen den überführten Standpunkt beim Namen seiner ursprünglichen Identität, seiner anfänglich eigenen Version vom Wesen, lassen nicht zu, daß er sich sang- und klanglos in die Positivität der ihm als neue Identität, als seine Wahrheit, nachgewiesenen Wesensversion des ihm entgegengesetzten Standpunkts hinüberrettet, und überführen ihn, indem sie ihm als solchem die Stange halten, scheinbar seine, des Unterlegenen, Partei ergreifen, Anteil an seinem Schicksal nehmen und, was ihm qua sophistische Widerlegung widerfahren ist, sub specie seiner festgehaltenen ursprünglichen Identität und anfänglich eigenen Version vom Wesen rekapitulieren, statt bloß positiv seines äußerlich oppositionellen Pendants und objektiven Gegenteils, vielmehr rein negativ seiner positionell inneren Widersprüchlichkeit und subjektiven Unhaltbarkeit. Sie lassen aus dem Widerlegen durch Überführen, das in der Hand der Sophistik ein bloßes Widerlegen als Überführen, ein ins Überführen als in seinen eigentlichen Sinn überführtes Widerlegen war, ein wirkliches Widerlegen werden, indem sie den sophistisch überführten Standpunkt an der Kapitulation vor dem anderen Standpunkt – von einer Konversion zum anderen Standpunkt ganz zu schweigen! – hindern und sein Augenmerk auf ihn, den Überführten selbst, in seiner ursprünglichen Verfassung zurücklenken, ihm also sein Überführtsein als bloßes Mittel vor Augen führen, durch das er seiner ursprünglichen Unstimmigkeit, seiner von Anfang an zur Selbstwiderlegung tendierenden Beschaffenheit inne werden kann. Mittels seiner sophistischen Überführung in den anderen Standpunkt führen die Wesenssucher dem überführten Standpunkt vor, wie es um ihn selbst und seine Version vom Wesen bestellt ist: wie er, indem er seine Version vom Wesen zu behaupten und zu vertreten scheint, in Wahrheit doch vielmehr die ihr widersprechende, sie durchkreuzende Version vom Wesen verficht und geltend macht, wie er anstrebt, was ihm von seinem Gesichtspunkt aus als das Gesunde und Bekömmliche erscheint, und in der direkten Konsequenz des Angestrebten doch nur das in seinen eigenen Augen Abträgliche und Schädliche erzielt, wie er will, was er aufgrund seiner Interessenlage für das Rechte und Gerechte hält, und in der unmittelbaren Implikation des Gewollten bekommt, was ihm selbst als das Unbillige und Ungerechte gilt, wie er, kurz, das vermeintlich Gute pro forma begehrt und pro materia der inneren Logik des Begehrten das tatsächlich Schlechte heraufbeschwört.

So also sind nun kraft sokratischer Wendung die Wesenssucher damit befaßt, die parteilichen Standpunkte und ihre interessierten Versionen vom Wesen insgesamt zu diskreditieren, ihren Anspruch auf ein Wissen des Wesens dergestalt ad absurdum zu führen, daß eben die sophistische Kunst des Überführens, die ihre Bedingung der Möglichkeit in der polaren Struktur, der konstitutiven Abhängigkeit der Standpunkte voneinander, hat und die von den Standpunkten selbst mit der Absicht eingesetzt wird, sich gegenseitig zu einer mit Konversion synonymen Selbstaufgabe oder jedenfalls zu einer als Kapitulation erkennbaren Selbstzurücknahme zu bewegen, von ihnen, den Wesenssuchern, vielmehr dazu verwendet wird, die Standpunkte als solche mit ihrer in solcher Überführbarkeit offenbaren inneren Widersprüchlichkeit und eigenen Unhaltbarkeit zu konfrontieren. Weil, wie die Regie führenden sokratischen Wesenssucher die Standpunkte darstellen lassen, das standpunkteigene Wissen vom Wesen, von einem dem Gemeinwohl gemäßen Sein, einem der Parteilichkeit und Partikularität enthobenen Grundbestand der Polis, in Wahrheit ein sich selbst widersprechendes Wissen ist und gleichermaßen seine argumentationslogische Konsequenz und seine konstitutionslogische Voraussetzung in einem ihm zuwiderlaufenden und es in aller Form Lügen strafenden Wissen vom Wesen hat, ist es je nur ein vermeintliches Wissen vom Wesen, doxa, und ist tatsächlich systematisch untauglich, das Wesen so, wie es wirklich, wie es nicht bloß selbstwidersprüchliche Ansichtssache ist, zu erfassen.

Als objektive Das Wesen so, wie es ist, zu erfassen, sind also die Standpunkte und ihre Vertreter, die streitenden Parteien mit ihren partikularen Interessen partout nicht disponiert. Wer aber ist es dann? Wer, da ja nach dem Untergang der kraft liturgischer Großtaten, kraft ihres Dienstes am Gemeinwohl, ein höheres, wesensbestimmtes Selbst unter Beweis stellenden Aristokratie niemand mehr da ist, der einen originären Wesensbezug, einen direkten Draht zum Wesen beanspruchen könnte und da jetzt die ganze Polis nichts weiter mehr darstellt als ein aus parteilicher Partikularität, aus widerstreitenden Interessen gewirktes und ebenso unauflösliches wie unversöhnliches Zwangsgebilde? So hoffnungslos verbarrikadiert sich demnach der Weg zum Wesen, praktisch-empirisch genommen, darbietet, so unschwer einsehbar scheint, theoretisch-systematisch betrachtet, wer und auf welche Weise den Weg zum Wesen dennoch öffnen könnte. Zugang zum Wesen gewinnen könnte offenbar allein, wer die Barrikade aus dem Weg zu räumen vermöchte und wer also – mit anderen, weniger metaphorischen Worten gesagt – imstande wäre, sich aller Parteilichkeit und allen darin beschlossenen ökonomisch-egoistischen Interesses und politisch-praktischen Standpunktes zu entschlagen und damit zugleich auch jene Version vom Wesen, jene das Wesen präjudizierende doxa loszuwerden, die sei's den Ausblick aufs Wesen kategorisch verstellt, sei's die Einsicht ins Wesen spezifisch verfälscht. Zugang zum Wesen gewänne, wer sich zur Neutralität und Interesselosigkeit, zur Unvoreingenommenheit und Objektivität des über den Parteien stehenden und eben deshalb zur Wesensschau fähigen Betrachters zu erheben vermöchte. wer also dorthin, wo die liturgische Aristokratie dank schichtspezifisch angestammter Praxis stand, kraft autodidaktisch erworbener Theorie zu gelangen vermöchte.

Indes, diesen theoretisch-systematisch denkbar naheliegenden, wenn auch praktisch-empirisch nicht unbedingt weiterhelfenden Schluß ziehen die auf der philosophischen Spielwiese Regie führenden Wesenssucher, da sie ihr rein kritisch-diagnostisches Geschäft beenden und sich nach der Möglichkeit eines im Namen des Wesens taktisch-therapeutischen Eingriffs umsehen, kurz, von der sokratischen Eristik zur platonischen Maieutik übergehen – diesen sich anbietenden Schluß ziehen sie nicht! Für die um eine Überwindung der Standpunkte, ein Transzendieren der Versionen vom Wesen, eine Befreiung von der doxa bemühten platonischen Wesenssucher ist schuld an den Standpunkten und ihrer systematischen Unfähigkeit zum Wesen nicht einfach eine subjektive Haltung, sondern eine objektive Befindlichkeit, nicht einfach die Befangenheit des einzelnen in Parteilichkeit und partikularen Interessen, sondern seine Verfallenheit an Sinnlichkeit und materiale Bedingungen, nicht einfach die gesellschaftlich-politische Voreingenommenheit und Bestimmtheit, die der einzelne in die Erscheinungswelt der Polis hineinträgt, sondern die natürlich-phänomenologische Besonderheit und Beschaffenheit dieser Erscheinungswelt, die beim einzelnen jene Voreingenommenheit und Bestimmtheit allererst hervortreibt. Was mit anderen Worten die Beteiligten daran hindert, das von partikularen Interessen und parteilichem Denken freie, dem Gemeinwohl gemäße Wesen zu erfassen, sind nicht sowohl die politisch-historischen Standpunkte, die sie in ihrer Lebenswelt einnehmen, sondern ist der phänomenologisch-ontologische Zustand dieser die Standpunkte umgreifenden Lebenswelt selbst, ist, kurz, weniger eine Frage des Sollens als ein Problem des Seins.

Als objektive Ursache für die Misere in der Stadt diagnostizieren die platonischen Wesenssucher die Erscheinungswelt, die eine ontologisierte Fassung des für die Polis grundlegenden kommerziellen Reichtums ist. Erscheinung ist kommerzieller Reichtum aus Sicht des demos, für den die Güter des Marktes nicht mehr aktuelle Lebensgrundlage, sondern potentielle Versorgungsbasis sind. Wie die Handeltreibenden ist der demos, der kommerziellen Reichtum als Erscheinungen wahrnimmt, Nutznießer des kommerziellen Appropriationsmechanismus, nur daß er nicht vom Reichtum profitiert, sondern von ihm zehrt. Der darin gelegene Zielkonflikt zwischen demos und Handeltreibenden schürzt den gordischen Knoten zwischen einer Akkumulation, die aus politischen Gründen Distribution erzwingt, und einer Distribution, die mit ökonomischer Notwendigkeit nach Akkumulation verlangt.

So befremdlich und unmotiviert diese Wendung der platonischen Wesenssucher weg von den Standpunkten und den einander widersprechenden Idealperspektiven, die sie eröffnen, und hin zu dem Realfundament, das die Standpunkte trägt und das den Rahmen absteckt, in dem die dem sokratischen Nachweis zufolge im wechselseitigen Widerspruch sich selbst widersprechenden Perspektiven befangen sind – so befremdlich diese Wendung in Anbetracht der pauschalisierenden Fassung dieses Realfundaments als einfach nur die Sinnenwelt, als Erscheinungswelt überhaupt, anmuten mag, so einleuchtend und gegründet wirkt sie doch im Blick auf das objektivierende Moment selbst, hinsichtlich der Tatsache also, daß mit ihr die Wesenssucher die Standpunkte und die sie definierende Parteilichkeit und Interessiertheit des Anscheins einer bloß personalen Option und subjektiven Stellungnahme zu entkleiden und auf objektive Gegebenheiten, auf materiale Bedingungen zurückzuführen bestrebt sind. Schließlich ist ja der die Polis durchwaltende Grundkonflikt, der oben als die Matrix allen Standpunktdenkens und aller dies Denken beherrschenden polaren Struktur oder Form wechelseitiger Abhängigkeit ausgemacht wurde, der Konflikt nämlich zwischen denen, die akkumulieren wollen und dadurch zum Gegenteil, zur unentgeltlichen Distribution gezwungen werden, und denen, die konsumieren wollen, und dadurch aufs Gegenteil, auf die pauperisierende Akkumulation angewiesen sind – schließlich ist dieser Konflikt kein Streit bloß der idealen Geister und der einander widerstrebenden Meinungen, sondern ein Streit um materiale Dinge und um die auf sie geltend gemachten Ansprüche.

Fassen wir diese Dinge, an denen sich, negativ gesagt, die Geister scheiden und auf die sich, positiv formuliert, die den jeweiligen Standpunkt und seine Version vom Wesen bestimmenden Parteibildungen und Interessen gleichermaßen gründen und beziehen, näher ins Auge und spezifizieren wir die Dinge mit anderen Worten so, wie der die Polis beherrschende Interessenkonflikt sie ausweist, konkretisieren wir sie in der gesellschaftlichen Form, in der allein sie für diesen gesellschaftlichen Konflikt gleichermaßen Grundlage und Gegenstand bilden, so sind sie in der Tat nicht Erscheinungen überhaupt, nicht die in formloser Mannigfaltigkeit sich präsentierende natürliche Totalität der Sinnenwelt, sondern diese Sinnenwelt in der für die Polis konstitutiven ökonomischen Bedeutung und maßgebenden sozialen Bestimmtheit potentiellen Reichtums, handelskapitaler Güter, kommerzieller Objekte. So gewiß der Konflikt, der die späte Polis bewegt, der zwischen einer Verwendung des in der Stadt akkumulierten Reichtums in fortlaufend akkumulativer Absicht und seinem Gebrauch zu vielmehr distributiven Zwecken, kurz, der zwischen oligarchisch-handelsrepublikanischer und demokratisch-wohlfahrtsstaatlicher Zielsetzung ist und so gewiß dieser Konflikt – jedenfalls seiner dilemmatisch-polaren, von der wechselseitigen Abhängigkeit der Kontrahenten geprägten Struktur nach – die philosophische Diskussion, die sich um das Eintracht schaffende gemeinsame Anliegen, das Gemeinwohl stiftende wahre Wesen der Polis dreht, bis in ihre letzten Winkel und abgehobensten Strata hinein beherrscht und bestimmt, so gewiß ist die von den platonischen Wesenssuchern als Grund für die Unfähigkeit, sich des gemeinsamen Anliegens zu versichern, als Hinderungsgrund für die Erfassung des wahren Wesens dingfest gemachte materiale Realität und phänomenale Objektwelt nicht das zur natürlichen Gegebenheit und ontologischen Unmittelbarkeit einer Erscheinungswelt überhaupt verdinglichte factum brutum, als das sie sich den Wesenssuchern darbietet, sondern dies scheinbare factum brutum der irdischen Existenz als tatsächlich ein fait accompli des Lebens in der Polis, mit anderen Worten diese Erscheinungswelt in der gesellschaftlichen Bestimmtheit des die Polis mitsamt ihren spezifischen Konflikten begründenden kommerziellen Reichtums, diese Sinnenwelt in der historischen Bedeutung einer dem Leben in der Polis Bestand verleihenden Warenwelt.

Allerdings – und hier liegt offenbar ein Moment von Berechtigung für die von den Wesenssuchern dem fait accompli verliehene pauschalisierende Fassung, wenn schon nicht für die ihm gegebene ontologisierende Wendung! – hindert diese gesellschaftliche Bestimmtheit der Erscheinungswelt der Polis nicht, daß sich die letztere der Gesellschaft, der sie erscheint, mittlerweile nicht mehr nur als eine durch sie, die Gesellschaft, eigentümlich bestimmte, sondern als eine sie, die Gesellschaft, zur Gänze bestimmende aufdrängt, daß also der die Polis begründende kommerzielle Reichtum nicht mehr nur die Funktion eines zentral gesetzten und alle Verhältnisse in der Stadt mit sich vermittelnden Tatbestands hat, sondern die Rolle eines universal vorausgesetzten und alle Verhältnisse in der Stadt aus sich erzeugenden Sachverhalts spielt, hindert mit anderen Worten die historische Konstitution der polisspezifischen Sinnenwelt nicht, daß letztere sich in ihrer Konstituiertheit nicht mehr nur mit dem Part eines dem Leben in der Polis Bestand verleihenden funktionellen Aspektes bescheidet, sondern als ein diesem Leben seinen verbindlich unmittelbaren Gegenstand bietendes, substantielles Milieu präsentiert, daß also die Warenwelt, auf der die Polis aufbaut, nicht mehr nur ein auf den Markt als wie immer grundlegenden Topos beschränktes instrumentales Durchgangsmoment der gesellschaftlichen Reproduktion bildet, sondern im Zusammenhang mit der Verwandlung des Marktes in eine Lastenausgleich betreibende allumfassende Distributionsinstanz inzwischen zu einem medialen Erfüllungsort der gesellschaftlichen Reproduktion avanciert ist. Und allerdings drückt sich darin eine wesentliche und für die Ausbildung der dilemmatischen Konfliktsituation in der Polis entscheidende Veränderung gegenüber der politisch-ökonomischen Ausgangslage des Gemeinwesens aus. Sosehr der kommerzielle Reichtum, der potentielle Reichtum in der Hand der Handeltreibenden, für die Entstehung der Polis und ihrer ökonomischen Ordnung beziehungsweise ihrer darauf fußenden politischen Organisation von grundlegender Bedeutung ist, sowenig spielt er in den Anfängen der Polis deshalb bereits jene Rolle einer allgegenwärtigen Anschauungsform und allumfassenden Realbestimmung, die seiner von den platonischen Wesenssuchern vorgenommenen Pauschalisierung zur Erscheinungswelt überhaupt und Ontologisierung zur naturgegebenen Sinnenwelt ein beschränktes Recht verleiht.

In der Anfangszeit der Polis hat der von den Wesenssuchern zum Erscheinungsganzen, zur Sinnenwelt pauschalisierte kommerzielle Reichtum diese gesellschaftliche Bestimmung, potentieller Reichtum, will heißen, bloße Erscheinung seiner selbst, sinnenfälliger Repräsentant seiner eigenen mehrwertigen Reproduktion zu sein, nur erst für die Handeltreibenden, für jene, die Güter erwerben, nur um sie wieder zu veräußern, und die sie veräußern, nur um wieder welche zu erwerben. Für diejenigen, von denen die Handeltreibenden ihre Handelsgüter primär erwerben und an die sie diese veräußern, für die Territorialherren nämlich, die ihre fronwirtschaftlich erzielten Überschüsse nutzen, um sich von den Handeltreibenden Bedürfnisse nachweisen und befriedigen zu lassen, hat der Reichtum die gesellschaftliche Bestimmung, potentieller Reichtum zu sein, durchaus nicht; für sie ist er vielmehr bloß aktueller Reichtum, Konsumgut. Und was sie nun ihrerseits für diesen aktuellen Reichtum hingeben, an die Handeltreibenden veräußern, und was für die letzteren der neue, vermehrte potentielle Reichtum ist, für den der Reichtum in ihrer Hand als Potentialis einsteht, ist für sie, die Territorialherren, einfaches Äquivalent des aktuellen Reichtums, nach dem sie streben, Gegenwert, dessen Rolle sich in dem durch ihn begründeten Anspruch auf aktuellen Reichtum erschöpft und der dazu dient, den letzteren von seiner gesellschaftlichen Bestimmung als potentieller Reichtum loszukaufen, zu erlösen. Aber auch – und das fällt im Blick auf die Verhältnisse in der Polis selbst mehr ins Gewicht! – für den arbeitenden Teil der Polisgemeinschaft, für jene, die sich im Kraftfeld und unter dem Schirm der die Polis stiftenden kommerziellen Funktion niederlassen und ihre landwirtschaftlichen beziehungsweise handwerklichen Güter produzieren, ist der kommerzielle Reichtum, den die Handeltreibenden dank dieser ihrer Produktion ebenso wie dank der von den territorialherrschaftlichen Nachbarn zur Verfügung gestellten fronwirtschaftlichen Überschüsse akkumulieren, nicht etwa als potentieller Reichtum bestimmt, als ein Handelskapital, das dazu da ist, weiteres und vermehrtes Handelskapital beizuschaffen, sondern bloß als etwas, das ihnen den Lebensunterhalt sichert, Dinge verfügbar macht, die sie zum Leben brauchen, kurz, ihnen als Subsistenzmittel dient. Für sie ist der akkumulierte Reichtum nichts weiter als ein Fonds von zur Distribution bestimmten Gebrauchsgütern, wobei Bemessungsgrundlage und Zuteilungskriterium der Distribution die Kompensationsleistung ist, die sie für das, was ihnen aus dem Fonds überlassen wird, erbringen, das als vergegenständlichte Arbeitsleistung, als Wert, bestimmte Äquivalent, das sie liefern, um den Fonds, aus dem sie sich bedienen, wiederaufzufüllen und als solchen zu erhalten.

Anders als für den fremden Territorialherren ist für die arbeitende Polisbevölkerung, die dem polisspezifischen Bestand an kommerziellem Reichtum, dem Markt, nicht als einer akzidentiell-empirischen Gelegenheit zur Befriedigung konsumtiver Ansprüche gegenübersteht, sondern sich zu ihm als zu einer habituell-systematischen Einrichtung für die Sicherung subsistentieller Bedürfnisse verhält, das Äquivalent, das sie zahlt, kein bloßes, als Überschuß zufällig vorhandenes Mittel zur Auslösung von Gebrauchsgütern aus einem Austauschsystem, das sie weiter nichts anginge und ihnen ebenso gleichgültig wie fremd bliebe, sondern ist als dies Auslösemittel zugleich ein wohlverstandener Beitrag zu eben diesem Austauschsystem, das ihnen ihre Subsistenz unter vom herrschaftlichen Frondienst emanzipierenden gesellschaftlichen Bedingungen garantiert und das, sich als Distributionsmechanismus zu erhalten, deshalb im Sinne ihrer politischen Freiheit nicht weniger als im Interesse ihrer ökonomischen Wohlfahrt liegt. Aber anders als für den innerstädtischen Handeltreibenden ist für die arbeitende Polisbevölkerung das Äquivalent, das sie für jedes dem Austauschsystem entnommene Subsistenzmittel zahlt, kein Beitrag, durch den sie an der akkumulativen Funktion des Systems zu partizipieren und von dem Gewinn, den es macht, zu profitieren strebte, sondern hat für sie seinen ebenso einfachen wie zureichenden Grund darin, daß die dem Austauschsystem abverlangte subsistenzbezogen-distributive Leistung eine systembezüglich-reproduktive Gegenleistung zwangsläufig impliziert, wenn das Ganze Bestand haben soll. Daß die Arbeitenden dabei, weil ja der Handeltreibende das distributive System, den Markt, in akkumulativer Absicht betreibt und ihnen also stets mehr an neuer Wertmenge für den Markt abverlangt, als er ihnen dafür von der auf dem Markt vorhandenen Wertmenge zukommen läßt, nolens volens zugleich dem kommerziellen Reichtum als solchem Tribut zollen, sprich, der Gütersammlung auf dem Markt in ihrer Eigenschaft als potentieller Reichtum, Reichtum heckender Reichtum, Vorschub leisten, kümmert sie nicht und wird von ihnen als gleichgültig-transzendentale Rahmenbedingung akzeptiert oder vielmehr ignoriert, solange die Distributionsleistung stimmt und ihnen der Markt nämlich nicht nur ihr subsistentielles Auskommen sichert, sondern sie zu allem Überfluß auch noch in bescheidenem Maße an seinem im Außenhandel erzielten Gewinnen beteiligt und ihnen eine allmähliche, die Vielfalt ebenso wie die Menge der verfügbaren Gebrauchsgüter betreffende Hebung ihres Lebensstandards beschert.

Ins Blickfeld gerät der akkumulative Aspekt des kommerziellen Reichtums, mit anderen Worten, der kommerzielle Reichtum als solcher, als handelskapitale Veranstaltung, der arbeitenden Polisbevölkerung nun allerdings in dem Maße, wie der Fortschritt in der Akkumulation mit Veränderungen und Beeinträchtigungen in der Distribution einhergeht. Weil die durch den Handel begünstigte Konzentration und Rationalisierung in den handwerklichen und landwirtschaftlichen Betrieben Kleinunternehmer und abhängig Beschäftigte aus dem Produktionsprozeß herauswirft, weil die per Handelsbeziehungen durchgesetzte Arbeitsteilung zwischen der Polis und den umliegenden Territorialstaaten den kleinen landwirtschaftlichen Produzenten, dem unteren Mittelstand, die Lebensgrundlage entzieht, schließlich weil der Reichtum in der Polis Arbeitskräfte von draußen anlockt, die das Heer der Arbeitsuchenden vergrößern und auf dem Arbeitsmarkt eine zur Lohndrückerei anregende Konkurrenzsituation erzeugen – weil dies alles geschieht, haben, wie oben gezeigt, der handelskapitale Akkumulationsprozeß und der mit ihm zunehmende Reichtum in der Polis die ebenso paradoxe wie unvermeidliche Folge, daß wachsende Teile der arbeitenden Bevölkerung nur noch sporadisch oder gar nicht mehr an den zur Erzeugung dieses Reichtums nötigen produktiven und zirkulativen Vorgängen beteiligt sind und sich deshalb auch von der auf solcher Beteiligung basierenden und an ihr sich bemessenden Distribution des Reichtums, seiner Verwendung zu subsistentiellen Zwecken, tendenziell oder aktuell ausgeschlossen finden. Und das wiederum hat soziale Spannungen und politische Unruhen zur Folge, die, wie gesehen, die aristokratische Führung zu einer Umverteilungsstrategie nötigen, an deren Ende die als Interessengemeinschaft zwischen Aristokratie und Demos, mit der Handelsfunktion als Faktotum, beschreibbare athenische Demokratie steht, ein System, bei dem das Gros des relativ deklassierten und pauperisierten Mittelstandes sowie die Masse der zu unterbezahlter Arbeit, Gelegenheitsjobs und Arbeitslosigkeit verurteilten Unterschicht, eben der gleichermaßen als neue soziale Formation und als akuter politischer Sprengsatz sich präsentierende Demos, durch staatliche Zuwendungen, die dem kommerziell akkumulierten Reichtum entstammen und für neu eingeführte, nichtökonomische Leistungen gewährt werden, halbwegs entschädigt und befriedet werden, um so die für eine Fortdauer der kommerziellen Akkumulation, die wiederum Voraussetzung einer Fortsetzung der befriedenden Umverteilungsstrategie ist, erforderlichen sozialen Verhältnisse und politischen Bedingungen zu schaffen. Auch wenn in seiner avanciertesten Form, der Form der athenischen Hegemonie, bei der die athenische Demokratie das ganze ägäische Handelsnetz in den Dienst ihrer polisinternen Umverteilungsstrategie stellt, das System nicht von Bestand ist, bleibt doch auch nach dem Zusammenbruch der Großmacht Athen und nach dem Untergang ihrer aristokratischen Führungsschicht das Prinzip der Stillstellung des als Opfer des handelskapitalen Akkumulationsprozesses hervorgetriebenen Demos durch seine distributive Beteiligung am akkumulierten handelskapitalen Reichtum erhalten und setzt sich nach einem kurzen oligarchischen Intermezzo als maßgebendes Prinzip der Polis, als ihre demokratische Grundverfassung, wieder durch.

Der für seine Subsistenz auf Zuwendungen aus dem Thesaurus der Stadt, sprich, auf Beteiligung am handelskapital erwirtschafteten Mehrwert oder besser am Mehrprodukt, in dem dieser Mehrwert verkörpert ist, angewiesene Demos hat nun aber in der Tat ein anderes Verhältnis zum kommerziellen Reichtum, als es die noch durch ihrer Hände Arbeit sich erhaltende Bevölkerung der Stadt, die aktiv an der Produktion und Zirkulation im Gewahrsam der Handelsfunktion mitwirkende Bürgerschaft früherer Tage hatte.

Für den Demos, oder vielmehr für die arbeitende Bevölkerung, soweit sie Demos ist, soweit sie ganz oder teilweise ausgefällt ist aus dem handelskapital organisierten Produktions- und Zirkulationszusammenhang und abhängig von den wohlfahrtsstaatlichen Zuwendungen der Demokratie – für diese das Gesicht der Polis mittlerweile prägende Formation also hat der kommerzielle Reichtum aufgehört, bloßes Lebensmittel, bloße kraft Äquivalent, kraft systembezüglich-reproduktiver Gegenleistung in Anspruch zu nehmende subsistenzbezogen-distributive Leistung zu sein, und stellt wie für die Handeltreibenden vielmehr potentiellen Reichtum, Mehrwert heckenden Wert, Kapital dar. Weil die Zuwendungen, die sie auf wohlfahrtsstaatlichem Wege vom Markt erhalten, nicht ein – wenngleich um die Handelsspanne, den kapitalen Anteil gekürztes – distributives Äquivalent ihres eigenen produktiv-zirkulativen Beitrages zum Markt ist, sondern dem akkumulierten Fundus entstammen, den der Markt und seine Betreiber, die Handeltreibenden, den produktiv-zirkulativen Beiträgen anderer per kommerziellem Austausch abgewinnen, finden sich diese neuen, den Demos bildenden Bürger auf der Seite der Handeltreibenden wieder und betrachten den kommerziellen Reichtum aus der gleichen Perspektive wie die letzteren: nicht als direktes Subsistenzmittel, sondern als obliques Aneignungsinstrument, nicht als aus dem Markt auszulösenden Gebrauchsgegenstand, sondern als per Markt einzulösenden Gutschein, nicht als eine Bedürfnisbefriedigung gewährende Wirklichkeit, sondern als die verheißungsvolle Möglichkeit einer Bedürfnisbefriedigung gewährenden Wirklichkeit. Weil die Angehörigen des Demos Nutznießer des kommerziellen Akkumulationsprozesses sind, weil sie wie die Handeltreibenden selbst von der Mehrwert abschöpfenden, kommerziellen Organisation des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, der akkumulationsträchtigen distributiven Funktion des Marktes profitieren, sind auch für sie der kommerzielle Reichtum, die auf dem Markt akkumulierte Warensammlung, das, was in dem durch den Markt definierten Blickfeld der Polis erscheint, nicht unmittelbar Gegenstände für das Bedürfnis, keine bloß aus dem Marktzusammenhang auszulösenden Dinge des Gebrauchs, sondern eben primär Erscheinungen, Repräsentanten ihrer, des verkörperten Reichtums, selbst, im Marktzusammenhang einzulösende Unterpfänder weiterer Erscheinungen.

Allerdings – und hier endet die perfekte Parallele in der Perspektive von Handeltreibenden und Demos – sind für die Angehörigen des Demos die Erscheinungen des kommerziellen Reichtums nicht wie für die Handeltreibenden Erscheinungen von Erscheinungen, die ihrerseits wiederum dem einzigen Zweck dienen, Erscheinungen von Erscheinungen sein, das heißt, sie sind nicht eingebunden in die schlechte Unendlichkeit des handelskapitalen Akkumulationsprozesses, dem Reichtum einzig und allein in der kategorialen Bestimmung eines sich ad infinitum vermehrt reproduzierenden potentiellen Reichtums etwas gilt; vielmehr sind für die Angehörigen des Demos die Erscheinungen des kommerziellen Reichtums Sinnenschein, Erfüllungsversprechen, Wirklichkeitsverheißung, Erscheinung von etwas, das den Sinnen guttut, Bedürfnisse befriedigt, Begierde stillt, Mangel behebt. Sowenig die Erscheinungen des Marktes für die Angehörigen des Demos noch durch das Äquivalent des eigenen Beitrages zum Markt außerhalb des Marktes vertretene und dorthin auszulösende Subsistenzmittel sind, sosehr sie vielmehr Erscheinungen von ihresgleichen, Stellvertreter anderer, auf dem Markt auftauchender Erscheinungen sind, sowenig sind für die Angehörigen des Demos diese anderen Erscheinungen nun aber ihrerseits wiederum als Erscheinungen von ihresgleichen, als Stellvertreter anderer Erscheinungen bestimmt, sosehr ist, was mit ihnen erscheint, im kurzschlüssigen Abbruch des infiniten Regresses oder, besser gesagt, der progressiven Akkumulation kein weiterer Wert, sondern bevorstehende Befriedigung, kein gegenständlicher Sinn, sondern ein Gegenstand der Sinne, kein in seiner Objektivität selbstbezüglicher, will heißen, auf ein ad calendas graecas künftiges Subjekt vorausbezogener Inhalt, sondern ein inhaltlich subjektbezogenes, will heißen, auf einen hier und jetzt präsenten Nutznießer rückbezügliches Objekt.

Während für sie anders als für die in der Polis oder anderswo produktiv oder zirkulativ Arbeitenden die Bestimmung, potentieller Reichtum zu sein, keine an den Gütern des Marktes, am kommerziellen Reichtum, bloß erscheinende und durch Realisierung der Potentialität, sprich, durch ein Äquivalent, das in Wahrheit mehr Reichtum darstellt, möglichst rasch abzulösende äußerliche Form, sondern vielmehr das erscheinende Wesen selbst und nämlich Ausdruck der Tatsache ist, daß eben jener von den in der Polis oder anderswo Arbeitenden mit dem Markt getriebene Äquivalententausch, der in Wahrheit ein Mehr an Reichtum auf den Markt bringt, ihnen, den Angehörigen des Demos, allererst ihren auf dies Mehr an Reichtum gemünzten und ebensosehr staatlich garantierten wie durch scheinbare Gegenleistungen tauschsystematisch kaschierten subsistentiellen Anspruch auf die Güter des Marktes verschafft und während sich insofern ihnen wie den Handeltreibenden der kommerzielle Reichtum nicht als aktuelle Lebensgrundlage, sondern als potentielle Versorgungsbasis, nicht als unmittelbares Subsistenzmittel, sondern als Mittel zum Subsistenzmittel präsentiert, ist doch zugleich für sie anders als für die Handeltreibenden die potentielle Versorgungsbasis, aller objektiven Selbstbezüglichkeit zum Trotz, nicht als in erweitert reproduktiver Sichselbstgleichheit prozedierender Akkumulationsmechanismus, sondern im distributiven Kurzschluß ebensosehr als aktuelle Lebensgrundlage bestimmt, haben für sie anders als für die Handeltreibenden die Subsistenzmittel, zu denen die als kommerzieller Reichtum firmierenden Subsistenzmittel als Mittel dienen, nicht ihrerseits wiederum die Eigenschaft kommerziellen Reichtums, sondern dienen in der ganzen Undurchsichtigkeit ihrer empirischen Kontinuität und sächlichen Gleichartigkeit mit dem, was als Mittel zu ihnen dient, ebensowohl als Zweck der Vermittlung, als Subsistenzmittel. Indem die Angehörigen des Demos einerseits die wertgegenständliche Reflexion-in-sich der marktbestimmten Subsistenzmittel mitmachen und diese wie die Handeltreibenden als Repräsentanten von ihresgleichen im Modus des Mehrwerts gelten lassen, brechen sie andererseits aber auch die objektive Reflexionsbewegung gleich wieder ab und reklamieren wie normal arbeitende Beiträger zum Markt, was die Wertgegenstände mehrwertig repräsentieren, als in ihnen selbst Gestalt werdende und leibhaftig präsente, unmittelbar subjektbezügliche Gebrauchsgegenständlichkeit. Sie verleihen damit dem kommerziellen Reichtum mitsamt der ganzen von ihm geprägten Realität der Polis jenen schillernden Charakter, jenen amphibolischen Zug, der das Wesen der Erscheinung ausmacht, sie als solche bestimmt, als eine Repräsentation von etwas, das in dem, wodurch es repräsentiert wird, ebensowohl unmittelbare Präsenz gewinnt und das deshalb Sinnenschein, sinnbetörende Epiphanie, emphatisch auf sich verweisendes Dasein, auratisch zur Schau sich stellende Wirklichkeit ist.

Dieser schillernde Charakter, den die subsistentielle Wirklichkeit, so wahr sie zum epiphanischen Selbstdarstellungsereignis, zur Erscheinung, wird, hervorkehrt, ist also Ausdruck der ökonomischen Tatsache, daß für die Angehörigen des Demos die Subsistenz nicht mehr wie für die vormals in den Produktions- und Zirkulationsprozeß eingebundene Stadtbevölkerung das durch die eigenen Transaktionen mit dem Markt bezeugte, erkennbare Resultat der außerhalb des Marktes vor sich gehenden und letzteren als wie immer objektiv komplexe und maßgebend eigengesetzliche Distributionsinstanz auf sich beziehenden Gütererzeugung und Güterverteilung der Subsistierenden selbst ist, sondern daß diese Subsistenz dem Markt als solchem entspringt, die wunderbare Frucht ausschließlich marktspezifischer Mechanismen darstellt, quasi die Spontangeburt der auf dem Markt akkumulativ versammelten und kraft akkumulativer Sammlung selbstbezüglich vermehrungsträchtigen Subsistenzmittel ist. Weniger mystifizierend gesagt, setzt die Erfahrung der Wirklichkeit als Erscheinung eine Subsistenz voraus, bei der nicht die Erfahrungssubjekte selbst, die vom Markte mehr oder weniger ausgeschlossenen Subsistierenden, eben die Angehörigen des Demos, sondern andere Arbeitende in der Polis und vor allem anderswo beziehungsweise deren territoriale Herren für die Ausstattung des Marktes mit Subsistenzmitteln sorgen und, da sie bei ihren Transaktionen mit dem Markte dessen akkumulativem Grundgesetz gehorchen, und das heißt, mehr Subsistenzmittel zu Markte tragen, als sie von dort empfangen, den Angehörigen des Demos ermöglichen, von ihrer, der Beiträger, Hände Arbeit mit zu leben. Weil für die als Erfahrungssubjekte firmierenden letzteren diese Transaktionen marktimmanent und nämlich ebensosehr unter der objektivierenden Camouflage des Marktes verborgen wie in seinen transzendentalen Rahmen gebannt ablaufen, entsteht für sie in der Tat die Suggestion einer subjektlosen Selbstdarstellung der auf dem Markt zirkulierenden Subsistenzmittel, nämlich der die Erfahrung der Wirklichkeit als Erscheinung begründende Eindruck potentiellen Reichtums, dessen Potential indes nicht er selbst, nicht wieder potentieller Reichtum, sondern die in ihm erscheinende, ihn als Sinnenschein reklamierende Subsistenz ist. Kurz, die Erfahrung der Welt als Erscheinung, als Sinnenschein, bedeutet, daß die dafür maßgebenden Subjekte, die Angehörigen des Demos, von dem gleichen marktspezifischen Aneignungsmechanismus profitieren oder besser gesagt zehren, wie die Handeltreibenden – nur daß sie eben von ihm zehren, statt von ihm zu profitieren, daß sie diesen Mechanismus nämlich nicht als Mittel der Akkumulation, der Anhäufung von Reichtum, gelten lassen, sondern als Medium der Distribution, als Füllhorn der Subsistenz, in Anspruch nehmen.

Mit dieser im Erscheinungskonzept kodifizierten Umfunktionierung des kommerziellen Reichtums und der von ihm geprägten Sächlichkeit der Polis aus einem Repräsentanten von mehr Reichtum, mehr Potentialität, mehr Haben in die Präsentation von mehr Subsistenz, mehr Realität, mehr Sein steht nun allerdings die Sicht- und vielmehr Verhaltensweise der Angehörigen des Demos in Konkurrenz zur Perspektive der Handeltreibenden und gerät nolens volens in Konflikt mit ihr. Schließlich impliziert praktisch-ökonomisch ja die Sicht- und Verhaltensweise der Angehörigen des demos, daß die letzteren Anspruch auf die unentgeltliche beziehungsweise als Entgelt für nichtökonomische Leistungen kaschierte Distribution jenes auf dem Markt erwirtschafteten Mehr an Reichtum erheben, Anspruch auf die wohlfahrtsstaatliche Verteilung jenes beim Gütertausch zwischen Arbeitenden und Handeltreibenden, der als Wertetausch bestimmt ist, erworbenen Mehrwerts geltend machen, der doch von seinen Erwerbern, den Handeltreibenden, der inneren, marktimmanenten Logik des Austauschsystems zufolge zu dem einzigen Zwecke erworben wird, ihn wieder in den Wertetausch einzuspeisen und zur Gewinnung eines neuen Mehr an Reichtum, weiteren Mehrwerts zu verwenden. Mit anderen Worten, die erscheinungsfixierte Sichtweise der Angehörigen des Demos beinhaltet praktisch-ökonomisch eine Anspruchshaltung, die, insofern sie die Wiedereinspeisung des Mehrprodukts, in dem der auf dem Markt erworbene Mehrwert verkörpert ist, in den Wertetausch zugunsten seines nur scheinbar austauschvermittelten unmittelbar-subsistentiellen Verzehrs hintertreibt, einer Beeinträchtigung und tendenziell Vereitelung des von den Handeltreibenden hochgehaltenen akkumulativen Zwecks der kommerziellen Veranstaltung gleichkommt.

Wenn die Handeltreibenden hier mitspielen, wenn sie solche Beeinträchtigungen in Kauf nehmen, wenn sie zulassen, daß an dem ihre Akkumulationstätigkeit bestimmenden Prinzip der Profitmaximierung wohlfahrtsstaatliche Abstriche gemacht werden, dann deshalb, weil die durch eben jene kommerzielle Akkumulationstätigkeit heraufbeschworene ökonomische Not und soziale Unruhe ihnen gar keine andere Wahl läßt: Wollen sie ungestört durch sozialen Aufruhr und politischen Umsturz ihre Akkumulationstätigkeit fortsetzen, so müssen sie einen Teil des Akkumulierten zur Linderung der ökonomischen Not darangeben, müssen sie mit staatlichen Umverteilungsmaßnahmen, die auf ihre Kosten gehen, mit Zuwendungen für nichtökonomische Leistungen, die aus ihrem ökonomisch akkumulierten Fundus bezahlt werden, die soziale Bedrängnis lindern. Akzeptieren die Handeltreibenden so aber die partielle Beeinträchtigung des Akkumulationsprozesses und benutzen sie als Mittel, um dessen generelle Fortführung sicherzustellen, so verstärken sie wiederum durch den fortgesetzten Akkumulationsprozeß bei den Angehörigen des Demos die ökonomische Not und soziale Bedrängnis, die ihrerseits neue Zuwendungen nötig macht. Ziel der wohlfahrtsstaatlichen Umverteilung ist also die Aufrechterhaltung der handelsrepublikanischen Bereicherungspraxis, die ihrerseits die Aufrechterhaltung der Umverteilungspraktik zwingend erforderlich macht. Damit ist der oben geschilderte gordische Knoten geschürzt, ist die oben dargestellte wechselseitige Abhängigkeit der Beteiligten, ihre fatale Angewiesenheit aufeinander, perfekt. Die Handeltreibenden wollen die kommerzielle Akkumulation und wollen damit ebensosehr und vielmehr die kompensatorische Distribution, die der durch die Akkumulation hervorgerufenen ökonomischen Not und sozialen Bedrängnis entgegenwirken soll, damit diese nicht die kommerzielle Akkumulation gefährdet. Die Angehörigen des Demos wollen die kompensatorische Distribution und wollen damit ebensosehr und vielmehr die kommerzielle Akkumulation, die Ursache der ökonomischen Not und sozialen Bedrängnis ist, der sie mittels kompensatorischer Distribution gerade abhelfen wollen.

Daß die platonischen Wesenssucher die Erscheinungsverfallenheit des demos zur anthropologischen Grundbefindlichkeit erklären, während sie andererseits durch Rekurs aufs Wesen, aufs Gute, an ihr Kritik üben wollen, ist ein Widerspruch, der in der unanfechtbar konstitutiven Bedeutung des kommerziellen Reichtums und der in ihm resultierenden handelskapitalen Akkumulation seinen Grund hat. Weil die Wesenssucher die Polis retten, nicht sie als solche in Frage stellen wollen, können sie den systematisch-kausalen Zusammenhang der polisspezifischen Erscheinungswelt nicht in den Blick bekommen und müssen sich auf eine Kritik ihrer empirisch-phänomenalen Konsequenzen beschränken. Das führt beispielhaft das Höhlengleichnis vor, das im Bild der Höhlensituation den demokratischen Verblendungszusammenhang beschreibt, aber auch deutlich macht, daß keine realgeschichtliche Hinterfragung der geschilderten Verhältnisse intendiert ist.

In diese Wunde im Fleisch des sozialen Organismus der Polis legen die platonischen Wesenssucher den Finger, diese schlecht unendliche Schleife in der historischen Bahn der Polis machen sie für die politische Krise der Gemeinschaft verantwortlich. Allerdings tun sie das, wie die Bestimmung der materialen Realität der Polis als Erscheinungswelt und die Erklärung dieser Erscheinungswelt zur conditio sine qua non irdisch-menschlicher Existenz deutlich macht, in ebenso indoktrinierender wie generalisierender Form! Wenn der Erscheinungsbegriff, wie behauptet, Chiffre des kommerziellen Reichtums und der durch ihn geprägten materialen Realität der Polis aus der Perspektive der wohlfahrtsstaatlich bedachten Angehörigen des Demos ist und wenn mit anderen Worten Erscheinung Resultat jener demokratischen Betrachtungsweise ist, die in den Subsistenzmitteln potentiellen Reichtum gewahrt, aber den potentiellen Reichtum zugleich als Potential der Subsistenz, als Füllhorn des Lebens, reklamiert, dann ist die platonische Identifizierung der Welt als Erscheinungswelt ebensosehr Anerkennung der demokratischen Perspektive als der gesamtgesellschaftlich verbindlichen, objektiv maßgebenden Sicht der Dinge, wie die damit einhergehende Kritik an der Erscheinungsverfallenheit und Erscheinungshörigkeit der Polisgemeinschaft als dem entscheidenden Hindernis für die Erkenntnis des Guten, des der Polis zuträglichen Wesens, den platonischen Anspruch signalisiert, über dieses Hindernis für die Wesenserkenntnis dennoch hinaus- beziehungsweise hinter es zurückzugelangen. Wohlgemerkt, nicht das Hindernis zu überwinden, sondern sich ihm nur zu entziehen, nicht es aus dem Weg zu räumen, sondern bloß über es hinauszugelangen, maßen sich die platonischen Wesenssucher an und ermäßigen so den andernfalls schreienden Widerspruch zwischen phänomenologisch-fatalistischer Diagnose und moralisch-therapeutischer Anstrengung zur einfach redenden Inkonsequenz. Denn inkonsequent allerdings bleibt, daß sie einerseits die Erscheinungsperspektive zur objektiv-verbindlichen Zustandsbestimmtheit des Menschen, zum unverbrüchlichen Konstitutiv seines Weltverhältnisses erklären und andererseits doch den Anspruch erheben, die Polisgemeinschaft von dieser Erscheinungsperspektive zu dispensieren, sie gegen sie zu immunisieren, um sie statt dessen einer Wesenserkenntnis zu überführen, die nun wiederum – aber wie denn wohl? – der vorher zur unverbrüchlichen Daseinsbestimmtheit erklärten Erscheinungsperspektive gegenüber die Bedeutung eines alles verändernden, alles neu machenden Regulativs gewinnen soll.

Redend ist diese Inkonsequenz, wenn man sie als Ausdruck einer in der Erklärung der Erscheinungsperspektive zur objektiv-verbindlichen Weltsicht beschlossenen Ausblendung der historischen Genese oder ökonomischen Kausalität dieser Erscheinungsperspektive begreift, wenn man mit anderen Worten die Erhebung der vom Demos praktizierten Wahrnehmung der Welt als Sinnenschein zum anthropologisch verbindlichen Verhalten oder ontologisch selbstverständlichen Beginnen als Versuch interpretiert, das solcherart wahrgenommene Sein selbst, das, was sich dem Demos als Sinnenschein aufdrängt, über allen Verdacht einer historisch gewordenen und deshalb veränderbaren, einer ökonomisch begründeten und deshalb anfechtbaren Gegebenheit vorweg zu erheben. Der vorgeschlagenen Explikation des Erscheinungsbegriffes zufolge ist dieses sich dem Demos als Sinnenschein aufdrängende Sein der für die Polis ebenso grundlegende wie in ihr wirklichkeitsstiftende kommerzielle Reichtum, jener potentielle Reichtum, der, indem er in Wahrnehmung seiner Potentialität einen kapitalen Akkumulationsprozeß durchläuft und sich als solcher vermehrt, die sozialen Nöte und Spannungen erzeugt, die am Ende dazu zwingen, ihn um der Aufrechterhaltung der für die Fortsetzung des Akkumulationsprozesses erforderlichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen willen auch und wesentlich für Umverteilungszwecke zu nutzen, das heißt, ihn zum Mittel einer unentgeltlichen oder nur scheinbar entgeltlichen Distribution zu machen und ihm eben damit den im Erscheinungsbegriff kodifizierten Charakter eines potentiellen Reichtums, dessen Potential nicht er selbst, sondern die Subsistenz ist, einer als Füllhorn des Lebens sich suggerierenden Wertmasse zu verleihen. Nur in dieser wohlfahrtsstaatlich-distributiven, speziellen Funktion nehmen die platonischen Wesenssucher den für die Polis grundlegenden und in ihr wirklichkeitsstiftenden Tatbestand, den kommerziellen Reichtum, zur Kenntnis, nicht hingegen in seiner handelsrepublikanisch-akkumulativen, generellen Konstitution, jener Konstitution, die ihn in seiner distributiv-speziellen Funktion ja allererst nötig werden und im Wortsinne in Erscheinung treten läßt. Indem die platonischen Wesenssucher die materiale Realität der Polis, die sie als wesensfeindlichen Tatbestand kritisieren, den kommerziellen Reichtum, ausschließlich als Erscheinung, als im Potential der Subsistenz aufgehenden potentiellen Reichtum, bestimmen und ihn zugleich in dieser Bestimmtheit zur Naturgegebenheit, zum factum brutum einer anthropologisch-ontologischen Grundbefindlichkeit der Polisgemeinschaft erklären, lassen sie deutlich werden, daß sie von der ökonomischen Genese des kommerziellen Reichtums in seiner speziellen Funktion als Erscheinung und mithin von dem für diese Genese verantwortlichen kommerziellen Reichtum in seiner generellen Konstitution als Akkumulationsprinzip, das heißt, als potentieller Reichtum, der nicht Subsistenz verheißt, nicht Erscheinung ist, sondern mehr potentiellen Reichtum heckt, Kapital ist – daß sie davon also partout nichts wissen wollen. Angesichts des oben beschriebenen historischen Zirkels aus erstens handelskapitaler Akkumulation von Reichtum, zweitens durch den Akkumulationsprozeß hervorgerufener sozialer Not und drittens der Not zu steuern bestimmter wohlfahrtsstaatlicher Distribution von Reichtum blenden die platonischen Wesenssucher die beiden ersten Momente quasi aus und machen den unvermittelten Anfang ihrer wesensorientiert-kritischen Überprüfung der Situation der Polis mit der durch solche Ausblendung ihrer Vorgeschichte als anthropologisches Naturverhältnis, als ontologische Grundbefindlichkeit gesetzten Perspektive des Demos, der sich der als potentielles Kapital fungierende kommerzielle Reichtum in subsistentielle Erscheinungen umfunktioniert darbietet.

Mit ihrer Konzentration auf den kommerziellen Reichtum in seiner abgeleiteten Eigenschaft als distributive Erscheinung, Subsistenz verheißender Sinnenschein, stellen die platonischen Wesenssucher unmißverständlich klar, daß für sie die den kommerziellen Reichtum als Erscheinung überhaupt erst auf den Plan der Polis rufende ökonomische Vorgeschichte, sprich, der kommerzielle Reichtum in seiner Grundbedeutung als akkumulatives Kapital, als Mehrwert heckender Wertträger nicht zur Diskussion steht. Und ohne weiteres klar ist auch, warum das so ist: In dieser Grundbedeutung als akkumulatives Kapital ist der kommerzielle Reichtum Konstitutiv der Polis, ist er gleichermaßen das ökonomische Fundament und die historische Ursache für die Entstehung und das Gedeihen des qua Polis organisierten neuen Gemeinschaftstyps. Den kommerziellen Reichtum in dieser Grundbedeutung in Frage zu stellen hieße, an den Grundfesten der Polis zu rütteln, hieße, das anzufechten, was der Polis ihren historischen Status und ihren systematischen Bestand verleiht. Von dieser Absicht sind die platonischen Wesenssucher denkbar weit entfernt. Sie wollen die Polis retten, sie von ihrer Krankheit fehlenden Gemeinsinns und in sich widersprüchlicher Selbstsucht heilen, nicht aber der Polis ihre Pathogenese nachweisen; sie suchen nach einer Therapie für die Gebrechen der Polis, nicht nach einer Diagnose, die diese Gebrechen als zwangsläufige Symptome der gesellschaftlichen Krankheitsform Polis deutlich macht. Kurz, sie wollen den status quo der politischen Gemeinschaft kritisieren und diese in ihrer ursprünglichen Verfassung wiederherstellen, nicht aber zur Kenntnis nehmen, daß der kritisierte status quo sich aus eben jener ursprünglichen Konstitution der Polis herleitet.

Deshalb also blenden im historischen Zirkel aus handelskapitaler Akkumulation, dadurch erzeugter sozialer Not und diese zu heilen bestimmter wohlfahrtsstaatlicher Distribution die platonischen Wesenssucher die ersten beiden Momente des Prozesses aus und kaprizieren sich strikt nur auf das resultative dritte Moment, das die maßgebende und als wesensfeindliche Krankheitsursache erkannte Realität der Polis, den kommerziellen Reichtum, nicht als den für das Entstehen der Polis konstitutiven Tatbestand, der er primär ist, nämlich als akkumulative Substanz, als Mehrwert heckendes Kapital, sondern ausschließlich als die den status quo der Polis determinierende Naturgegebenheit, als die sie sich sekundär darbietet, nämlich als distributives Phänomen, als Subsistenz verheißende Erscheinung, wahrnimmt. Und weil sich die platonischen Wesenssucher unter Ausblendung der akkumulativen Kapitalbewegung auf die distributive Erscheinungsperspektive kaprizieren, präsentiert sich ihnen diese nun zwangsläufig als unmittelbare ontologische Gegebenheit, natürliche anthropologische Befindlichkeit. Wie wollen sie an dieser natürlichen Befindlichkeit Kritik üben, geschweige denn an ihr etwas ändern? Und was überhaupt wollen sie an ihr kritisieren, da sie ja den zentralen Kritikpunkt oder entscheidenden Tatbestand, eben den akkumulative Kapitalprozeß, der wegen der sozialen Not, die er erzeugt, sie, die distributive Erscheinungsperspektive als kompensatorische Veranstaltung und damit als Bedingung der Möglichkeit seines eigenen, weitere Not erzeugenden Fortganges ins Leben ruft, zuvor ausgeblendet haben?

Indes, daß den platonischen Wesenssuchern an der dem historischen Zirkel ihrer ökonomischen Genese entrissenen und unmittelbar gesetzten erscheinungsweltlichen Perspektive gar nichts mehr zu kritisieren bleibt, diese Sorge erweist sich als unbegründet. Schließlich ist die distributive Erscheinungsperspektive, sowenig sie als Resultat des akkumulativen Kapitalprozesses und der durch ihn erzeugten sozialen Not wahrgenommen wird, eingebunden in den ökonomischen Zirkel, der sich durch sie hindurch entfaltet; das heißt, sie ist, wie einerseits Resultat des Not erzeugenden und nach ihrer kompensatorisch distributiven Dazwischenkunft verlangenden akkumulativen Kapitalprozesses, so andererseits durch eben diese ihre kompensatorische Dazwischenkunft, durch ihre distributiven Ansprüche, Ausgangspunkt neuer Not erzeugender Akkumulationsprozesse. Und auch wenn, da ja der Kapitalprozeß ausgeblendet und mithin die Erscheinungsperspektive den platonischen Wesenssuchern als Resultat politisch-ökonomischer Mechanismen verborgen bleibt, diese Einbindung der Erscheinungswelt in den von der widersprüchlichen Komplementarität zwischen handelskapitaler Akkumulation und wohlfahrtsstaatlicher Distribution angetriebenen Zirkel nicht in die Erscheinung tritt oder, besser gesagt, die Erscheinungswelt als ineins resultatives und initiatives Moment des Zirkels nicht sichtbar und erkennbar wird, sind doch phänomenologisch-ontologisch, sprich, in actu der Erscheinungsperspektive selbst, die Konsequenzen dieser Einbindung unschwer registrierbar. Was in seiner positiven, objektives Unheil stiftenden Funktion dem Blick verschlossen bleibt, das ist in seiner negativen, subjektive Heilserwartungen durchkreuzenden Form ohne weiteres wahrnehmbar und gewinnt für diejenigen, die zur Erscheinungsperspektive hinlänglich auf Distanz gegangen sind, um deren Unvereinbarkeit mit der Wesenssuche ins Auge fassen zu können, die Bedeutung einer ihr Verhältnis zur Erscheinungswelt als wesentlich kritisches prägenden Erfahrung.

Bleibt schon den die historische Genese der Erscheinungsperspektive ausblendenden platonischen Wesenssuchern der systematisch-kausale Zusammenhang zwischen die Not zu lindern bestimmter subsistentieller Distribution und neue Not schaffender kapitaler Akkumulation unergründlich, so drängt sich ihnen doch jedenfalls die empirisch-phänomenale Konsequenz auf, die dieser unergründlich bleibende Zusammenhang zeitigt: Sie realisieren mit anderen Worten, wie sehr die auf Linderung der Not und Befriedigung von Bedürfnissen abgestellte subsistentielle Distribution nur immer das Gegenteil dessen erzeugt, was sie bewirken soll, und nämlich bloß selber in dem Maße an Dringlichkeit gewinnt, wie sie neue, zu lindernde Not nach sich zieht und vermehrte, nach Befriedigung verlangende Bedürftigkeit heraufbeschwört. In der Tat ist genau dies ja der Vorwurf, den die platonischen Wesenssucher der sub specie der Erscheinungsperspektive betriebenen Wesenssuche machen und den sie zum entscheidenden Punkt ihrer Kritik an jeglicher Verknüpfung erscheinungsweltlicher Rücksichten mit der Wesensschau erheben: daß die ums Wesen Bemühten unter dem Einfluß und vielmehr im Bannkreis erscheinungsweltlicher Dynamik nur immer das Gegenteil dessen beschwören können, was sie zu erreichen meinen, daß sie, indem sie Befriedigung zu schaffen meinen, vielmehr neue Bedürftigkeit erzeugen, daß sie, vermeintlich Gutes hervorrufend, vielmehr das Schlechte befördern, daß sie, da sie glauben, dem Rechttun zu dienen, vielmehr das Unrecht begünstigen, daß sie, dieweil sie für heilsame Ordnung zu sorgen wähnen, vielmehr nur dem nach heilsamer Ordnung verlangenden heillosen Chaos Vorschub leisten.

Dieses alle Wesensschau sub specie der Erscheinungsperspektive in einen zirkelhaften Selbstwiderspruch verstrickende und von vornherein durchkreuzende grundlegende Dilemma, das die platonischen Wesenssucher der Erscheinungswelt als quasiontologische Struktureigentümlichkeit zur Last legen und dessen durch den quasiontologischen Status eigentlich ausgeschlossene Beseitigung oder Überwindung sie zur Voraussetzung jeder ernstzunehmenden Wesenserkenntnis erklären, expliziert Platon ebenso einprägsam wie sinnreich mit dem Bild von der Erscheinungswelt, das er in seinem Höhlengleichnis entwirft. Was den in der Höhle mit dem Gesicht zum Höhleninneren Angeketteten das in ihrem Rücken brennende Feuer an die hintere Wand der Höhle projiziert, ist für sie die Wirklichkeit, die Welt der alltäglichen, nützlichen Dinge, der zur Distribution anstehende kommerzielle Reichtum, der in dem Maße Sinnenschein, Erscheinung ist, wie er zwar seiner Form nach für etwas anderes einsteht, etwas von ihm Verschiedenes verheißt, dies andere und Verschiedene aber seinem ganzen Inhalte nach nicht er selbst in akkumulativer Reproduktion, in der kapitalen Wiederholung weiteren kommerziellen Reichtums, sondern er selbst als Potential von Subsistenz, Füllhorn des Lebens, unmittelbares Befriedigungsmittel sein soll.

Während die Angeketteten dies Soll der Erscheinungen, diese subsistentielle Unmittelbarkeit, dies lebenspendende Potential, auf das aus ihrer Sicht die Erscheinungen verweisen, als deren Inhalt gelten lassen und im resultativen Kurzschluß mit ihnen selbst identifizieren, während also, kurz, die Angeketteten die Erscheinungen an der Höhlenwand für die bare Münze der Wirklichkeit nehmen, insistiert der auf seine Freiheit von den Ketten der Erscheinungsperspektive pochende Analytiker Platon auf dem im Verweisungscharakter der Erscheinungen implizierten formellen Unterschied zwischen dem, was verweist, und dem, worauf verwiesen wird, zwischen den Erscheinungen selbst und dem, was sie erscheinen lassen, und macht also den erscheinenden Inhalt als eigenständigen Tatbestand dingfest. Von fremder Hand gefertigte Gegenstände sind es, die im Rücken der Angeketteten vor dem Feuer von durch eine Mauer verborgenen Trägern vorbeigetragen werden und deren Schattenriß der Lichtschein des Feuers an die hintere Höhlenwand wirft. Sie sind die tatsächlichen Dinge, die von den Schattenrissen an der Wand, von den für die Angeketteten sichtbaren Erscheinungen, bloß gespiegelt, reflektiert, zum Erscheinen gebracht werden, sie sind die Wirklichkeit, für die die Spiegelungen an der Wand bloß als Abbilder und, insofern die Angeketteten dabei verführt werden, die Spiegelungen für die Sachen selbst zu nehmen, als Trugbilder einstehen. Indes stellt Platon mit Bedacht heraus, daß die Dinge hinter dem Rücken der Angeketteten, von denen die Spiegelungen vor ihren Augen bloß Ab- oder Trugbilder sind, wiederum nur Bilder und nämlich von Menschenhand gefertigte, künstliche Nachbildungen der natürlichen Dinge außerhalb der Höhle sind, daß also die Wirklichkeit, auf die durch die Erscheinungen verwiesen wird, ihrerseits bloß Verweisungscharakter hat, Erscheinungen sind.

Ideell oder doktrinell, das heißt, der ideologiekritischen Absicht nach, will Platon mit seiner die vermeintliche Wirklichkeit der Bilder als wiederum bloß Bildlichkeit identifizierenden Wendung die Erscheinungshöhle als unentrinnbar immanenten Verblendungszusammenhang decouvrieren und will er deutlich machen, daß in solcher von der natürlichen Welt wie das Schattenreich von der Sphäre der Lebenden verschiedenen spiegelbildlichen Kunstwelt eine mit Wirklichkeitswahrnehmung synonyme Wesenserkenntnis nicht zu haben beziehungsweise daß Bedingung der Möglichkeit solcher Wesenserkenntnis der radikale Bruch mit der Erscheinungsperspektive, sprich, der Ausbruch aus der Höhle ist.

Funktionell oder reell allerdings, das heißt, von der erkenntnistheoretischen Implikation her gesehen, dient diese Enthüllung der in der Abbildung erscheinenden vermeintlichen Sache selbst als ihrerseits nur ein Abbildungsverhältnis dem Nachweis der immanenten Widersprüchlichkeit und zirkelhaften Crux der in der Höhle kultivierten Erscheinungsperspektive. Mögen die Kunstprodukte, die im Rücken der Angeketteten vorübergetragen werden, auch noch so sehr für Dinge außerhalb der Höhle einstehen und in ihnen ihre ideelle Wirklichkeit haben, indem sie hinter den Angeketteten vorübergetragen werden und das Feuer ihr Schattenbild an die Höhlenwand wirft und als Trugbild ihrer selbst den Angeketteten vorgaukelt, stehen sie ebensowohl für dies Schattenbild ein und haben also in diesem Trugbild ihrer selbst ihre funktionelle Wirklichkeit. Sosehr sich der Erscheinungs- oder Repräsentationscharakter der hinter der Mauer vorbeiziehenden Kunstprodukte, abstrakt genommen oder für sich gesehen, auf die von ihnen abgebildeten Dinge außerhalb der Höhle bezieht, sosehr ist er, im konkreten Kontext der Höhle betrachtet und der Logik der immanenten Konstellation entsprechend, auf die Abbildungen, die den Angeketteten als Wirklichkeit vorgegaukelten Schattenrisse, gemünzt, die die Kunstprodukte ihrerseits zu erzeugen dienen. Sosehr die Bildwerke hinter der Mauer auf lebendige Geschöpfe verweisen und darin ihr eigentliches Sein haben, sosehr beschwören sie hier und jetzt die von ihnen selbst an der Höhlenwand geschaffenen Schattenbilder und finden darin ihren konfigurativ wahren Sinn oder jedenfalls ihren resultativ verbindlichen Referenten.

Aus dieser, im Höhlengleichnis implizierten immanent-funktionellen Sicht drängt sich das zirkelhaft Selbstwidersprüchliche der Realitätswahrnehmung, die von den Gefesselten praktiziert wird, förmlich auf. Genauer in Augenschein genommen und als das eigenständige Moment des Vorganges, das sie ist, dingfest gemacht, erweist sich in der Tat die Wirklichkeit, die in der Unmittelbarkeit der Schattenbilder die Angeketteten wahrzunehmen und zu erfassen meinen, als eine Realität, deren höhlenspezifisch einzige Funktion es ist, neuerliche, auf sie verweisende und sie als ihren unmittelbaren Inhalt zu repräsentieren vorgebende Schattenbilder heraufzubeschwören, erweist sich mit anderen Worten das, was den Gefesselten in den Trugbildern erscheint, deshalb als im höchsten Maße trügerisch, weil es nichts ist als das Vermögen, die potentia, weitere es als Wirkliches, als actus, erscheinen lassende Trugbilder an die Wand zu malen. Und zugleich wird damit deutlich, wie sehr die Konstellation in Platons Höhlengleichnis die von den platonischen Wesenssuchern als für die Wesenserkenntnis verderblich angeprangerte Situation in der Polis beschreibt, wie sehr mit anderen Worten der Zustand der Gefesselten im Gleichnis der Lage des Demos in der Polisgemeinschaft gleicht: Auch der Demos meint ja, durch die als distributiver Fundus aufgefaßten Erscheinungen des kommerziellen Reichtums Wirklichkeit, subsistentielle Befriedigung, zu erlangen, während diese Wirklichkeit, diese subsistentielle Befriedigung in Wahrheit doch nur den Effekt hat, ihn immer abhängiger vom kommerziellen Reichtum werden zu lassen, ihn also immer mehr ans Wirklichkeit verheißende Potential des distributiven Fundus zu fesseln, immer bedürftiger nach den subsistentielle Befriedigung gewährenden Erscheinungen zu machen. Auch der Demos zeigt sich ja in jenem zirkelschlüssigen Dilemma gefangen, daß er durch eben das Mittel, von dem er sich Heilung verspricht und durch das er sich aus seiner sozialen Notlage herauszuziehen hofft, seine Krankheit immer weiter verschärft, seine Not immer neu reproduziert, daß sich ihm, kurz, das Heilmittel in actu dessen, was es bewirkt, als Suchtmittel erweist, daß die Linderung, die es ihm verschafft, um den Preis vermehrten Siechtums erkauft ist.

Allerdings belegt und bestätigt Platons Höhlengleichnis auch noch einmal den oben erhobenen Vorwurf einer alle Kritik im Prinzip vereitelnden Ontologisierung oder jedenfalls Anthropologisierung der Erscheinungsperspektive durch die platonischen Wesenssucher, den Vorwurf also, daß die letzteren mit ihrem Anspruch, die Erscheinungsperspektive als mit aller ernsthaften Wesenserkenntnis unvereinbares Hindernis offenzulegen, nicht etwa deren systematisch-kausale Herleitung, ihre Rückführung auf den politisch-ökonomischen Mechanismus, der sie hervortreibt, beabsichtigen, sondern einzig und allein ihre empirisch-phänomenale Hinterfragung, den Vorweis des moralisch-praktischen Zirkels, in dem sie sich umtreibt, im Auge haben. Weil der politisch-ökonomische Mechanismus, dem die auf distributive Teilhabe am kommerziellen Reichtum der Polis abgestellte demokratische Erscheiungsperspektive entspringt, nichts anderes ist als die handelskapitale Akkumulation von Reichtum und die im Faktum einer relativen Verarmung und sozialen Klassenbildung resultierende Ungleichverteilung, zu der solche Akkumulation zwangsläufig führt, und weil aber dieser politisch-ökonomische Mechanismus offenkundiges Konstitutiv der Polis und insofern für die platonischen Wesenssucher, denen es ja eben um die Polis geht, eine genauso selbstverständliche Voraussetzung und nicht in Frage zu stellende Gegebenheit ist wie die letztere selbst – weil das so ist, blenden also die platonischen Wesenssucher diesen in unauflöslicher Zweideutigkeit gleichermaßen für den Bestand der Polis und für ihre Gebrechen grundlegenden politisch-ökonomischen Mechanismus einer relative Armut erzeugenden kommerziellen Reichtumbildung kurzerhand aus und behalten nichts zurück als die vom Widerspruch getriebene Oberflächenbewegung der Erscheinungsperspektive als solcher, den ebenso unerklärlichen wie unabwendbaren Zirkel aus durch die kommerziellen Erscheinungen scheinbar repräsentierter subsistentieller Wirklichkeit und aber durch solch subsistentielle Wirklichkeit in Wahrheit immer nur reproduzierten repräsentativ kommerziellen Erscheinungen. Statt der analytischen Einsicht in die permanent historische Spirale einer kommerziellen Akkumulation, die soziale Not schafft, die zu distributiven Veranstaltungen nötigt, die wiederum in neuer Akkumulation und dadurch hervorgerufener neuer Not resultiert, bleibt den die kommerzielle Akkumulation als Motiv der Bewegung ausblendenden platonischen Wesenssuchern nichts als die phänomenologische Ansicht vom immanent hermeneutischen Zirkel einer distributiven Veranstaltung, die statt der Befriedigung, die sie verheißt, statt der Fülle, die sie vermeintlich gewährt, vielmehr immer nur das Bedürfnis nach neuer, Befriedigung verheißender Distribution schafft, immer nur das Mangelbewußtsein reproduziert, dem sie, die vermeintlich Fülle gewährende distributive Veranstaltung, sich wiederum die Miene gibt abzuhelfen.

Eben diese hermeneutisch verkürzte und nämlich um den realen, politisch-ökonomischen Grund der phänomenalen, moralisch-praktischen Kreisbewegung, in der die athenische Demokratie befangen ist, gebrachte Sichtweise kultiviert auch Platons Höhlengleichnis, indem es die entscheidenden Bedingungen für die in der Höhle vorgefundene Konstellation, die handwerkliche Produktion und zirkulative Prozession der Artefakte einerseits und die Arretierung und Okkupation der im übertragenen ebenso wie im buchstäblichen Sinne des Wortes Gefesselten andererseits, als unhinterfragte Voraussetzungen, als anthropologisch fixen Stand der Dinge oder ontologisch gegebene conditio humana gelten läßt, um dann auf dieser, gegen alle Kritik sichergestellten Grundlage Kritik an den Höhlenbewohnern selbst zu üben, will heißen, das zirkelschlüssig Widersprüchliche, trugbildnerisch Falsche ihrer faszinierten Realitätswahrnehmung vor Augen zu stellen. Mit anderen Worten, Platons Höhlengleichnis sanktioniert die Verhältnisse, unter denen die Höhlenbewohner leben, als anthropologisch-ontologische Grundbefindlichkeit, um anschließend das Verhalten zu kritisieren, das diese Verhältnisse den Höhlenbewohnern ebenso unabwendbar wie unentrinnbar aufzwingen.

Eine die Betroffenen zur Änderung ihres Verhaltens drängende praktische Intention und moralische Forderung läßt sich augenscheinlich nicht mit solcher Kritik verknüpfen. Damit diese Intention und Forderung den mindesten Sinn gewänne, müßten ja auch und vor allem die Verhältnisse, die den Betroffenen ihr Verhalten gebieterisch aufzwingen, als veränderbar vorstellbar sein. Und das wiederum würde voraussetzen, daß jene Verhältnisse den Charakter einer irreduzibel ontologischen Gegebenheit oder anthropologischen Konditionierung verlören und sub specie ihrer geschichtlichen Genese und ihrer gesellschaftlichen Funktion thematisch würden. Im Bilde des Höhlengleichnisses gesprochen, hieße dies, daß gefragt werden müßte, aus welchen Gründen und zu welchem Zweck die als höhlenspezifisches factum brutum gelten gelassene Produktion und Zirkulation von Artefakten stattfindet und in welchem funktionellen Zusammenhang damit die als höhlenbewohnertypisches fait accompli hingenommene Fesselung derer steht, die sich von den Abbildern der Artefakte blenden lassen. In den realgeschichtlichen Kontext zurückübersetzt, wäre das die Frage nach der Genese und Funktion, dem Woher und Wozu, des handelsrepublikanisch-akkumulativen Mechanismus, dem die wohlfahrtsstaatlich-distributive Erscheinungsperspektive, in die sich die athenische Demokratie gebannt findet, entspringt und in dem sie ihr in zirkelhaftem Selbstwiderspruch umgetriebenes Bestehen hat. So gewiß aber damit die Polis als solche hinterfragt und ihrer Konstitution der Prozeß einer unheilbaren, weil nur durch Heilmittel, die sich ihrerseits wiederum als Gift erweisen, überspielbaren ökonomischen Konflikt- und politischen Krisenträchtigkeit gemacht würde, so gewiß stellt für die platonischen Wesenssucher, die ja vielmehr auf die Heilung der Gebrechen der Polis aus sind, solche Hinterfragung ein Ding der Unmöglichkeit dar.

Aus dem Dilemma einer Erscheinungsverfallenheit, die ontologisiert wird und doch überwindbar sein soll, kann nur ein menschlicher deus ex machina, der zur Wesensschau fähige Weise, heraushelfen. Das Vorbild zum Weisen liefert das aristokratisch höhere Selbstsein, zwar nicht in seiner öffentlich-politischen Funktion, wohl aber in seiner privat-philosophischen Hinterlassenschaft, nämlich in jener vorsokratischen Tradition, die eine Schöpfung privatisierender Aristokraten ist und die das Wesen als grundlegendes Naturprinzip reklamiert, um mit seiner Hilfe die Erscheinungswelt in specie ihres eigenen, oikosentsprungenen Reichtums zu entmythologisieren und von opferkultlicher Determination freizusetzen. Die platonischen Wesenssucher interessiert an dieser Tradition nur das die Erscheinungen auflösende, aufs naturprinzipielle Wesen reduzierende Moment, das die Vorsokratiker brauchen, um sie als entgöttlichte vom Grunde des Wesens auf neu zu setzen. Die vorsokratische Reduktion liefert dem platonischen Weisen das Modell für eine, aller ontologischen Verbindlichkeit der Erscheinungswelt zum Trotz, dennoch mögliche Überwindung der Erscheinungsverfallenheit und Wesensschau. Das geschaute Wesen ist indes nicht das die Dinge physikalisch hervorbringende parmenideische Sein, sondern das die Verhältnisse moralisch ordnende platonische Gute.

Bleibt die Frage, ob und wie die angestrebte Heilung der Krankheit des Gemeinwesens dann überhaupt noch denkbar, geschweige denn vorstellbar sein soll. Schließlich setzen die platonischen Wesenssucher die Heilung der Polis in die Erkenntnis des durch Stiftung von Gemeinsinn Gemeinwohl gewährleistenden Wesens, jener in einer Mischung aus historischer Urtümlichkeit und systematischer Begriffsförmigkeit angenommenen idealtypischen Verfassung der Polis, von der vorerst nichts weiter bekannt ist, als daß sie ein Zusammenleben ohne Habsucht und Machtgier und eine Gemeinschaft jenseits von Parteilichkeit und Zwist begründet. Und schließlich sehen die platonischen Wesenssucher in der demokratischen Erscheinungswelt und der auf sie fixierten Perspektive der Bürgerschaft das entscheidende Hindernis für solche Wesenserkenntnis, sehen sie darin den alle Wesenserkenntnis ausschließenden Verblendungszusammenhang, in dem die Bürgerschaft der Polis sich zirkelschlüssig-selbstwidersprüchlich herumwirft. Wenn sie nun an der Erscheinungsperspektive Kritik üben, diese als wesensfeindliches Verhalten verwerfen, gleichzeitig aber die für die Perspektive grundlegende Tatsache, eben die Erscheinungswelt selbst, um sie nicht in ihrer historischen Genese und Faktizität erkennen zu müssen, als anthropologisch gegebene Kondition, als ontologisch vorausgesetztes Verhältnis gelten lassen, wie soll dann mit solcher Kritik an der Erscheinungsperspektive noch die geringste praktische Konsequenz verknüpfbar, wie soll den in ihr Befangenen dann noch irgend realiter abzuverlangen oder auch nur der Möglichkeit nach zumutbar sein, sich um der für eine gründliche Neuordnung der Verhältnisse in der Polis nötigen Einsicht ins Wesen willen von der Erscheinungsperspektive zu lösen und sich aus ihr zu befreien. Wenn die platonischen Wesenssucher die Erscheinungswelt, um sie nicht als Produkt der politisch-ökonomischen Konstitution eben des Gemeinwesens wahrnehmen zu müssen, das sie vor den deformierenden Einflüssen und dissoziierenden Auswirkungen dieser Erscheinungswelt doch gerade retten wollen, als anthropologisch ebenso verbindliche wie ontologisch feststehende Natur akzeptieren, wie können sie dann von denen, die sie für in diese Natur hineingeboren, an sie fixiert und von ihr zur Gänze bestimmt erklären, noch verlangen, sich dieser Natur zu entschlagen, um kraft Erkenntnis des mit ihr unvereinbaren und durch sie zur Gänze verdrängten wahren Wesens der Polis eine gründliche Neuordnung der politischen Verhältnisse – wo aber wohl, wenn nicht auf dem Boden der wesensinkompatiblen Natur, und wie wohl, wenn nicht unter den wesensinkompatiblen Bedingungen dieser Natur? – zu konzipieren und ins Werk zu setzen?

Die Frage macht die Antwort überflüssig: Sie können es nicht. Die platonischen Wesenssucher haben sich und die als Troglodyten, als Höhlenbewohner, ausgemachten Bewohner der Polis, denen sie das Licht bringen wollen, in ein heilloses Dilemma verstrickt: Um die als Wesen angenommene ursprünglich-ideale Konstitution der Polis, die sie die Polisbewohner gewahren und verwirklichen lassen wollen, von aller genetisch-kausalen Verantwortung für die Erscheinungswelt, die mit ihrer spezifischen Perspektive die Wesenswahrnehmung und –verwirklichung verstellt und vereitelt – um also jenes Wesen von aller Schuld an dieser es negierenden Erscheinungswelt freizuhalten, haben sie die letztere den Polisbewohnern als ihren unmittelbar ontologischen Status, ihre unableitbar menschliche Natur aufgehalst. Und damit das von aller Verantwortung für den erscheinungsweltlichen Status quo freigehaltene Wesen nun aber für die Polisbewohner erreichbar und verfügbar würde, müßten diese sich über die ontologische Fixierung an die wesenswidrige Erscheinungswelt, die anthropologische Abhängigkeit von der erscheinungsweltlichen Perspektive erheben und sich ihrer entschlagen können; mit anderen Worten, die Erscheinungswelt dürfte für die Polisbewohner eben den ontologischen Status und eben die anthropologische Verbindlichkeit nicht haben, den die platonischen Wesenssucher ihr, um das Wesen von aller genetisch-historischen Verantwortlichkeit für sie freizuhalten, vindizieren. Ein unentrinnbares Dilemma, aus dem herauszukommen, es schon übermenschlicher Kräfte, einer den empirischen Rahmen sprengender Kapazität bedarf, kurz gesagt, einen deus ex machina braucht. Und diesen deus ex machina treiben die platonischen Wesenssucher nun tatsächlich auch auf, ihn bringen sie in Gestalt des mit höherer Einsicht begabten Weisen und von besserer Absicht geleiteten Guten, des im Unterschied zu den normalen Sterblichen der Wesensschau teilhaftigen Philosophen, ins Spiel.

Was den Guten und Weisen, den Menschen, der agathos ist, vor den normalen Sterblichen, den troglodytischen Polisbewohnern, auszeichnet und was ihn zum deus ex machina auf dem dilemmatisch verworrenen Schauplatz der Polis prädestiniert, liegt auf der Hand: Es ist die Tatsache, daß er über eben das verfügt, was sich den normalen Sterblichen entzieht und dank ihres Gefesseltseins an die Erscheinunsperspektive unerreichbar bleibt, nämlich die Einsicht ins Wesen, die Wahrnehmung der hinter allen realen Gebrechen verborgenen idealen Konstitution der Polis, die Erkenntnis dessen, was für die Polisgemeinschaft das heilende Prinzip, das Gute, ist. Diese Verfügung über die Erkenntnis des Wesens impliziert nun allerdings und setzt in der Tat voraus, daß der Weise sich von eben der erscheinungsweltlichen Fixierung und erscheinungsperspektivischen Befangenheit hat freimachen können, die für die normalen Sterblichen den Haupthinderungsgrund und die entscheidende Abhaltung darstellt, des Wesens teilhaftig zu werden. Wie aber ist ihm das gelungen, da ja aller metaphorischen Rede zum Trotz der deus ex machina kein Gott, sondern auch nur ein Mensch ist und den platonischen Wesenssuchern die Erscheinungswelt doch eigentlich als unhinterfragbar ontologische Gegebenheit, die Erscheinungsperspektive als unentrinnbar anthropologisches Schicksal gilt? Um der offenbaren Gefahr zu entrinnen, daß auf der Ebene des dem Dilemma der erscheinungsweltlichen Befangenheit der menschlichen Natur abzuhelfen bestimmten deus ex machina das Dilemma sich einfach nur reproduziert, greifen an diesem Punkte die platonischen Wesenssucher auf die Tradition des aristokratisch höheren Selbstseins und seines Gemeinsinn erzeugenden, privilegierten Wesensbezuges zurück. Wie schon beim Begriff des Wesens selbst, bei der Vorstellung von einer das Gemeinwohl gewährleistenden ursprünglich-idealen Verfassung der Polis, knüpfen auch beim Problem, wie sich die erscheinungsweltliche Befangenheit überwinden und Zugang zu diesem, durch die erscheinungsperspektivische Fixierung verstellten Wesen finden läßt, die platonischen Wesenssucher an das Vorbild der aristokratischen Liturgen an.

Und in der Tat bietet ihnen die Tradition der wesensfundierten, aristokratisch-liturgischen Führerschaft den nötigen Anknüpfungspunkt dazu. Zwar in ihrer eigentlichen Funktion einer politischen Elite, die kraft eines ihr konzedierten Wissens vom Wesen freie Verfügung über ihren sub specie des Wesens seines hypothekarischen Charakters als Eigentum der Götter, opferkultliches Gut, entkleideten und zu bloßen, unverfänglichen Erscheinungen entmächtigten Reichtum erlangt und die aber zugleich das ihr konzedierte Wissen vom Wesen bei Strafe seines Verlustes beziehungsweise seiner Aberkennung verpflichtet, der freien Verfügung über den Reichtum eine gemeinsinnige Richtung zu geben, sie liturgisch, im Sinne des Gemeinwohls, zu praktizieren – in dieser öffentlich-politischen Funktion einer Führung, die der Wesensbegriff ineins ökonomisch vom Opferkult zu dispensieren und politisch zur arché zu domestizieren dient, ist die Aristokratie zugrundgegangen und hat das ihr unterstellte Wissen vom Wesen mit ins Grab genommen. In privat-philosophischer Eigenschaft dagegen lebt die Aristokratie fort und hat eine nach heutiger Lesart als vorsokratische Überlieferung firmierende Reihe von Zeugnissen hinterlassen, die zum Zeitpunkt der die platonischen Wesenssucher auf den Plan rufenden agonalen Krise der Polis den letzteren denkbar geeignet erscheinen, eine Lösung für das Problem erscheinungsweltlicher Befangenheit und erscheinungsperspektivischer Fixierung zu liefern. Jene privat-philosophische Eigenschaft bildet die Aristokratie vornehmlich dort aus, wo es mit ihrer öffentlich-politischen Funktion hapert, wo sie sich also in ihrer politischen Betätigung und in ihrem Führungsanspruch sei's – wie in den unter lydische und persische Fremdherrschaft geratenen Polisgemeinschaften Kleinasiens – durch Heteronomisierung beeinträchtigt, sei's – wie in den zu provinzieller Bedeutungslosigkeit verkommenen Gemeinschaften Unteritaliens – durch Marginalisierung kaltgestellt findet.

Unter dem Eindruck ihrer so oder so erzwungenen relativen Funktionslosigkeit und politischen Untätigkeit wird der Aristokratie nämlich zum Problem, was als ebensosehr Regulativ wie Konstitutiv der das Realfundament ihres sozialen Status und politischen Einflusses bildenden freien Verfügung gilt, die sie über ihren oikosentsprungenen Reichtum behauptet: der ihr konzedierte besondere Bezug zum Wesen, der sie in jenem höheren Selbstsein begründet, das ihr erlaubt, die opferkultlich substantiierte und nämlich als göttliches Eigentum realisierte Wirklichkeit als bloße herren- und hintergrundslose Erscheinungssphäre wahrzunehmen und entsprechenden, von allen hypothekarischen Rücksichten und Verpflichtungen befreiten Umgang mit ihr zu pflegen. Solange die Aristokraten das ihnen konzedierte privilegierte Wissen vom Wesen durch liturgische Leistungen, ihre politische Praxis, bewähren, solange der uneigennützig-indifferente Gebrauch, den sie als ebenso angesehene wie anerkannte Führer der Polis gleichermaßen zum Wohle der Gemeinschaft und zum eigenen Ruhme von ihrem – ihnen zur freien Verfügung gestellten – Reichtum machen, in den Augen aller die besondere Einstellung belegt, die sie gegenüber den materiellen Dingen dieser Welt als gegenüber sovielen unverfänglich-herrenlosen Gegebenheiten, substanzlos-bloßen Erscheinungen beweisen, und damit indirekt zwar, aber deshalb nicht weniger zwingend, den als das Wesen bestimmten Grund bezeugen, in dem solch besondere Einstellung gründet – solange das der Fall ist, sind sie nur zu bereit, sich auf das ihnen als Lobeserhebung in den Ohren klingende Wort der Polisgemeinschaft zu verlassen, daß ihr Bezug zum Wesen eine Realität ist, die, wie wenig auch als solche expliziert und wie sehr auch einschließlich Bezugspunkt ihnen selbst im Dunkeln bleibend, doch aber sie zum unbehinderten – beziehungsweise nur durch das Bild, das sich die Polisgemeinschaft von ihnen als wesensbestimmt höherem Selbstsein macht, kontrollierten – Umgang mit den Erscheinungen dieser Welt disponiert. Eingespannt in die öffentlichen Angelegenheiten der Polis, in Anspruch genommen von der tatkräftigen Verwaltung der Erscheinungswelt, in der und mit der die Polis ihre erfolgreichen Geschäfte betreibt, halten sie sich nicht lange damit auf, den theoretischen Bedingungen ihrer Praxis, der ihrem Tun unterstellten Wesensbestimmtheit, nachzuforschen, sondern lassen die Unterstellung als eine von allen anerkannte, weil im kommoden Zirkel durch das Tun, das in ihr seinen Grund behauptet, bezeugte Tatsache gelten.

Anders stellt sich nun aber die Sache dar, wo sich die Aristokraten an solch praktischer Betätigung gehindert oder in ihr beeinträchtigt, wo sie sich unter den genannten Umständen imperialer Fremdherrschaft oder provinzieller Bedeutungslosigkeit ihrer politisch-liturgischen Funktionen beraubt finden. Den zu reichen Privatleuten Entfunktionalisierten muß in dem Maße, wie sie mit ihren öffentlich-liturgischen Aufgaben auch der ruhmredigen Anerkennung durch ihre Mitbürger verlustig gehen, die freie Verfügung über ihren oikosentsprungenen Reichtum, die sie in ihrer städtischen Privatiersexistenz unverändert beanspruchen, zum Problem werden. So gewiß die Anerkennung, die ihnen die Mitbürger für ihre liturgischen Leistungen zollen, die Rolle einer Legitimation ihrer von opferkultlichen Verpflichtungen freien Verfügung über den oikosentsprungenen Reichtum spielt und ihnen nämlich als Bestätigung dafür gilt, daß der Legitimationsgrund für ihre freie Verfügung über den Reichtum, der sie in ihrem höheren Selbstsein etablierende Bezug zum Wesen, in den liturgischen Leistungen, die sie erbringen, empirisch gegeben und nachweislich vorhanden ist, so gewiß ist nun der Verlust jener Anerkennung gleichbedeutend damit, daß die ihres liturgischen Charakters entkleidete und in die Form des privaten Gebrauchs zurückgenommene freie Verfügung ihren Legitimationsgrund, das Wissen vom Wesen, bei ihnen, den nolens volens privatisierenden Aristokraten selbst, nachfragt und vielmehr einklagt. In dem Maße, wie die freie Verfügung über den Reichtum aufhört, ein in ihrer liturgischen Fassung durch die Anerkennung der Mitbürger bezeugter empirischer Beweis für das vorhandene Wissen vom Wesen zu sein, und statt dessen die Form eines polisunerheblichen, für die Bürgerschaft gleichgültigen persönlichen Tuns und privaten Treibens annimmt, reklamiert sie den qua Wesensbezug guten Grund, den sie braucht, bei den neuen Adressaten und Nutznießern, die sie hat, den sie zum eigenen Wohle praktizierenden aristokratischen Reichtumbesitzern selbst. Schließlich ist der oikosentsprungene Reichtum im Augenblick seines Entspringens nach wie vor als Eigentum der Götter, Opfergut determiniert, und um es dieser seiner opferkultlichen Determination, dieser seiner hypothekarischen Belastung mit göttlichen Prärogativen zu entziehen, müssen sie jenen guten Grund haben, den die Bürgerschaft keinen Anlaß mehr findet, ihnen zu attestieren, müssen sie mit anderen Worten das Wissen vom Wesen, das ihnen zuvor die Bürgerschaft durch ihre Anerkennung als vorhanden nachwies, jetzt eigenhändig oder besser eigensinnig in seinem Vorhandensein vorweisen.

Dabei verändert der Versuch der privatisierenden Aristokraten, das für ihr höheres Selbstsein und dessen freie Verfügung über den Reichtum grundlegende Wissen vom Wesen unter Beweis zu stellen, die Stellung des Wesens zur Erscheinungswelt ähnlich radikal wie dies später das oben explizierte Bemühen der platonischen Wesenssucher tut, das Wissen vom Wesen als eine für Gemeinsinn und dem Gemeinwohl dienliches Handeln mutmaßlich richtungweisende Einsicht wieder zum Vorschein zu bringen. Indem der privatisierende Aristokrat wie auch später der platonisierende Philosoph im Bemühen um die Legitimierung ihres sei's als freie Verfügung, sei's als Gemeinsinn gefaßten besonderen Verhaltens zu beziehungsweise in der Erscheinungswelt das Wesen als den für dieses Verhalten im Regreß zu ermittelnden oder induktiv zu erschließenden guten Grund in Anspruch nehmen, verwandeln beide das Wesen zwangsläufig – um obige Formulierungen aufzugreifen – aus einem von Haus aus bloß negativen Auslöser und akzidentiellen Anlaß des Verhaltens in dessen positive Ursache, seine substantielle Basis. Aus der prinzipiell anderen, transzendenten Ordnung, die bei denen, die sie gewahren, nebenbei und in reflexhafter Konsequenz auch Verhaltensänderungen in und gegenüber deren erscheinungsweltlicher Immanenz bewirkt, wird ein alternatives, transzendentales Ordnungsprinzip, das denen, die sich durch erkenntnisvermittelte Aktualisierung seiner versichern, gezielt dazu dient, ihr anderes Verhalten in und gegenüber der erscheinungsweltlichen Immanenz reflexiv zu begründen und als notwendige Folge vorzuführen.

Aber nicht genug damit, daß sich bei beiden, beim aristokratischen Privatier wie beim platonischen Weisen, das Wesen aus einer in die Immanenz ebenso akzidentiell-indirekt wie negativ-spontan hineinwirkenden transzendenten Ordnung zu einem sich in der Immanenz ebenso substantiell-direkt wie positiv-konsequent geltend machenden transzendentalen Ordnungsprinzip funktionell wandelt, zeigt es sich beim aristokratischen Privatier mehr noch in dem Sinne strukturell verändert, daß es für die Immanenz selbst, in der es als transzendentales Ordnungsprinzip geltend gemacht wird, das heißt für die Erscheinungswelt als solche, konstitutive Bedeutung und in der Tat affirmative Ursächlichkeit gewinnt. Schließlich ist die freie Verfügung über den oikosentsprungenen Reichtum, für die der privatisierende Aristokrat das Wissen vom Wesen als Legitimationsinstrument braucht, anders als der polisinterne Gemeinsinn, für den der platonisierende Philosoph die Wesenserkenntnis als Begründungsverfahren reklamiert, kein reines Verhalten zwischen Subjekten, die in actu solchen Verhaltens der erscheinungsweltlichen Immanenz indifferent beziehungsweise, soweit diese das gemeinsinnige Verhalten behindert, ablehnend gegenüberstehen, sondern sie ist vielmehr eine Beziehung zu Objekten, die Teil dieser erscheinungsweltlichen Immanenz sind und in denen die letztere parte pro toto besteht. Und schließlich sind diese ebensosehr in genere als erscheinungsweltliche Immanenz wie in specie als oikosentsprungener Reichtum bestimmten Objekte von den Göttern mit Beschlag belegt und durch deren Eigentumsvorbehalt hypothekarisch belastet; mit anderen Worten, sie schließen eben die freie Verfügung, die der in der Polis privatisierende Aristokrat über sie erlangen möchte, objektiv, das heißt, kraft der opferkultlichen Präokkupation, mit der sie dem Oikos entspringen, aus.

Soll deshalb das Wissen vom Wesen dem Aristokraten die freie Verfügung über seinen Reichtum verschaffen, soll das Wesen als Legitimationsgrund für die freie Verfügung herhalten, so muß es ebensosehr und vielmehr primär Legitimationsgrund dafür sein, den Reichtum beziehungsweise die materielle Wirklichkeit, die er parte pro toto vertritt, als frei von solch göttlicher Präokkupation zu gewahren, als aller opferkultlichen Verpflichtungen ledig anzusehen. Damit das Wissen vom Wesen dem aristokratischen Privatier freie Verfügung über die Wirklichkeit gewähren kann, muß das Wesen imstande sein, die Wirklichkeit von allen opferkultlichen Obligationen freizusetzen, sie durch Tilgung aller vorgeblich göttlichen Verfügung über sie verfügbar werden zu lassen. Wie aber, da ja die Wirklichkeit in ihrer oikosentsprungenen Unmittelbarkeit durch ihre opferkultlichen Bindungen bis ins Mark bestimmt ist, da sie qua natürliche Gegebenheit in den Göttern ihren als Bollwerk gegen die Nichtigkeit, mit der die Negativität des anderen Subjekts sie bedroht, ursprünglich firmierenden Seinsgrund hat – wie also soll das Wesen diese Freisetzung leisten können, wenn nicht durch eine vollständige Auflösung und Zurücknahme, Verwesung und Aufhebung dieser von den Göttern okkupierten und vom Opferkult durchdrungenen Wirklichkeit und ihre dadurch ermöglichte ebenso vollständige Neubegründung und Rekonstruktion, Neufassung und Reproduktion aus dem einen und einzigen Grunde des allen Götterkults überhobenen, aller opferreligiösen Verstrickung entzogenen Wesens selbst?

So also verwandelt das Bemühen der aristokratischen Privatiers, sich die freie Verfügung über den oikosentsprungenen Reichtum auch über ihre liturgische Einbindung ins Projekt der Polis hinaus zu erhalten, das Wesen endgültig aus einem transzendenten Sein, dem die immanente Wirklichkeit als eine von ihm nicht gesetzte, sondern nur abgefallene, eine aus seinem Grunde nicht bestimmte, sondern höchstens disqualifizierte Scheinsphäre gegenübersteht, in ein transzendentales Prinzip, aus dem die immanente Wirklichkeit als sein eigenes Werk, als die Manifestation seiner selbst, als Welt der in ihm ihren Seinsgrund findenden Erscheinungen hervorgeht. Nachdem das Wesen in antidioynsischer Frontstellung der theokratischen Aristokratie ursprünglich nur dazu dient, die sozialrevolutionäre Kritik an der theokratischen Wirklichkeit zu überbieten und durch deren Degradation zur wesenlosen Erscheinung gegenstandslos werden zu lassen, und nachdem das Wesen dann von der entstehenden Polis aufgegriffen wird, um die in die Polis hineinragende Konkursmasse der theokratischen Wirklichkeit, den oikosentsprungenen Reichtum, durch Degradation zur bloßen Erscheinung nicht nur sozialverträglich in den Zusammenhang der Stadt zu integrieren, sondern mehr noch für die Stärkung dieses Zusammenhanges nutzbringend zu verwenden, dient nun also das Wesen in völliger Verkehrung seiner bis dahin – aller sozialstrategisch affirmativen Absichten unbeschadet – wesentlich nur wirklichkeitsverneinenden Funktion den in der Polis privatisierenden Aristokraten vielmehr dazu, die Wirklichkeit als seine ausschließlich eigene Erscheinung positiv zu begründen, um sie auf diese Weise als ein desakralisiert profanes Gebilde für den aus aller opferkultlichen Verpflichtung entlassenen privaten Gebrauch frei verfügbar werden zu lassen.

Aus der substantiellen Indifferenz einer transzendenten Ordnung, der gegenüber die immanente Wirklichkeit sich zum akzidentiellen Schein verflüchtigt, in die transzendentale Ursächlichkeit eines ersten Anfangs oder essentiellen Prinzips überführt, dem die immanente Wirklichkeit als seine eigene Konsequenz, sein als phänomenale Gestaltung sichtbarlicher Ausdruck entspringt, ist das Wesen arché, ein Grund und Ursprung, der – wie der aus dem Politischen ins Naturphilosophische übertragene Begriff suggeriert – für das, was aus ihm hervorgeht oder wozu er sich, besser gesagt, entfaltet, auf der ganzen Linie solchen Hervorgehens und Entfaltens die Verantwortung trägt und die Bestandsgarantie übernimmt, Lenkungsfunktion hat und die Stiftungsrolle spielt. Ob in der elementaren Stofflichkeit von Feuer, Luft und Wasser, ob in der kategorialen Einfachheit des Apeiron, des Seins oder des Atoms, ob in der phänomenalen Spiritualität des Nous oder des Logos – stets ist das als arché bestimmte Wesen die materia prima oder prima causa, auf die alles rest- und rückhaltlos zurückgeht und in die sich die gesamte Wirklichkeit als in das offenbare Geheimnis ihres Bestehens auflösen läßt. Und stets ist es dieses materielle, kategoriale oder spirituelle Prinzip, das eben deshalb, weil alles auf es zurückgeht und in ihm seine substantielle Auflösung findet, auch als die Ursache von allem firmiert und durch Mechanismen, die als reines Selbstverhältnis, schiere Selbstbetätigung verstanden sein wollen, durch Mischung und Trennung, Verdichtung und Verdünnung, Ausgliederung, Bewegung, Werden, alles hervorbringt und sich in allen Hervorbringungen als in reinen Erscheinungen seiner selbst kundtut.

Weil das Wesen selbst absolutes Naturprinzip, weil es das konstitutive A und definitive O aller Wirklichkeit ist, weil die Wirklichkeit als ausschließlich seine Erscheinung ebenso vollständig auf es zurück- wie aus ihm hervorgeht – deshalb also verleiht das Wissen vom Wesen dem privatisierenden Aristokraten freie Verfügung über seinen oikosentsprungenen Reichtum und entbindet ihn von den Rücksichten auf die Götter und den opferkultlichen Obligationen, mit denen ihn eben dieser Reichtum von Hause aus konfrontiert. Als arché, als Naturprinzip, das nicht mehr eine hinter der Immanenz verborgene Transzendenz, ein hinter dem Schein der Wirklichkeit zeitlos vergangenes Sein, sondern ein in der Immanenz sich manifestierendes Transzendental, ein in der phänomenalen Wirklichkeit sich rückhaltlos darstellender Grund ist, bringt das Wesen eine Welt hervor, entfaltet es sich zu einer Erscheinungssphäre, die entmythologisiert, von den Göttern emanzipiert, bar aller kultischen Signifikanz ist. Wie und aufgrund welcher Qualifikation der aristokratische Privatier sein Wissen vom befreienden Wesen in praxi erwirbt, wie er des Wesens entweder durch eine petitio principii teilhaftig wird, nämlich dadurch, daß er eben das höherer Selbstsein, das ja eigentlich erst Konsequenz der Wesenserkenntnis ist, umgekehrt als deren Bedingung ausgibt, oder aber durch einen Rückgriff auf die doch gerade zu überwindende Sphäre höherer Mächte, nämlich dadurch, daß er sich eines übernatürlich-dämonischen Wegweisers zum Wesen versichert glaubt – wie sich also der aristokratische Privatier aus der götterbeherrschten Wirklichkeit und opferkultlichen Sphäre herausmogelt, ist zwar erkenntnistheoretisch ebenso interessant wie lebensgeschichtlich pikant, braucht aber hier, wo es um die Nutzbarmachung der fertigen vorsokratischen Tradition emanzipierender Wesensseinsicht für Zwecke der platonischen Wesenssuche gilt, nicht weiter verfolgt zu werden. Genug, daß die aristokratischen Philosophen oder vorsokratischen Privatiers das Wissen von einem Wesen behaupten, das in eben dem Maße, wie es alle Wirklichkeit als ausschließlich seine Erscheinung zu erklären und zu begründen dient, auch natürlich, für sich genommen und als die materia prima oder prima causa von allem gefaßt, alles aus ihm Erschienene in es, das Wesen, zurückzunehmen und aufzulösen, in ihm, dem Prinzip, resultieren und verschwinden zu lassen taugt!

Einzig und allein um letzteres, um diese, die Erscheinungen für eigentlich nichts als das Wesen erkennende, die Wirklichkeit durch ihr Prinzip restlos eskamotierende, reduktive Leistung der vorsokratischen Wesenswahrnehmung geht es den platonischen Wesenssuchern, nur um ihretwillen stellen sie ihren deus ex machina, ihren philosophischen Weisen, in jene entmythologisierend-naturphilosophische Tradition. Schließlich geht es den platonischen Wesenssuchern mit ihrem deus ex machina, ihrem Weisen, darum, gegen alle troglodytisch erscheinungsweltliche Fixierung und erscheinungsperspektivische Befangenheit, die sie als das entscheidende Hindernis bei der Wesensschau diagnostizieren und zugleich als anthropologisch-ontologische Grundbefindlichkeit der Polisgemeinschaft, als allgemeine menschliche Kondition, gelten lassen, einen Zugang zum Wesen dennoch möglich werden zu lassen. Wie sollte da die vorsokratisch-philosophische Tradition, die den Weg zum Wesen gefunden zu haben und gegangen zu sein behauptet und die mehr noch diesen Weg als Weg der Reduktion der Wirklichkeit, der Auflösung der Erscheinungen, mithin als gleichbedeutend mit der Beseitigung des ihn aus Sicht der platonischen Wesenssucher entscheidend blockierenden Hindernisses begreift – wie sollte da die letzteren solch eine, das Erreichen des Zieles mit der Überwindung dessen, was ihm im Wege steht, regelrecht gleichsetzende Tradition etwa nicht ansprechen und nicht dazu animieren, den deus ex machina, den Weisen, in sie hineinzustellen und aus ihr Nutzen ziehen zu lassen? Allerdings nicht den Nutzen, den die Stifter der Tradition, die vorsokratisch-naturphilosophischen Privatiers selbst, aus ihr zu ziehen bemüht sind! So gewiß die Tradition den platonischen Wesenssuchern dazu dient, den Weg zum Wesen, den Erwerb eines Wissens von ihm, als synonym mit der Entrealisierung aller den Weg zum Wesen vermeintlich verlegenden Realität, mit der Auflösung aller das Wissen vom Wesen scheinbar hintertreibenden Erscheinungswelt zu einem im Wesen selbst verschwindenden Schein, zu fassen, so gewiß hat damit die Tradition ihre Schuldigkeit auch schon getan, ihren rein negativen Zweck erfüllt.

Anders als für die aristokratischen Rentiers ist für die platonischen Wesenssucher das uno actu der restlosen Rückführung und rückhaltlosen Auflösung aller Erscheinung gefundene Wesen nicht dazu da, die Erscheinungen neu, und das heißt, von allen anderen Rücksichten befreit, weil rein nur aus dem Wesen selbst und der ihm eigenen Mechanik hervorgehend, zu konstituieren, hat mit anderen Worten das Wesen keine die Erscheinungswelt selbst betreffende positive Begründungsfunktion, hat es nicht die Aufgabe, eine von göttlichen Prärogativen und kultischen Obligationen entbundene phänomenale Objektivität zu stiften. Wie sollte es auch, da ja der Erscheinungsbegriff hier und dort etwas völlig Verschiedenes und in der Tat Unvereinbares meint. Dort, bei den privatisierenden Aristokraten, ist Erscheinung ein Positivum, oikosentsprungener und von daher opferkultlich gebundener Reichtum, von dem die in der Polis lebenden Privatiers ungehindert Gebrauch machen und über den sie frei verfügen wollen, ohne daß sie noch die Möglichkeit haben, diese freie Verfügung durch liturgische Leistungen, die ihnen die Bürgerschaft als indirekten Beweis für ihre wesenhaft emanzipierte Stellung zur Wirklichkeit attestiert, zu begründen und zu rechtfertigen. Hier dagegen, bei den platonischen Wesenssuchern, ist Erscheinung ein reines Negativum, polisspezifischer kommerzieller Reichtum, den die Wesenssucher für die Fraktionierung und den Zerfall der Polis in einander wechselseitig bedingende wohlfahrtsstaatlich-demokratische Umverteiler und handelsrepublikanisch-oligarchische Akkumulateure verantwortlich machen und über den sie deshalb hinaus oder hinter den sie zurück wollen, um die Basis für konstruktiven Gemeinsinn und konflikfrei gemeinschaftliches Wirken wiederzuentdecken. Und während deshalb dort die aristokratischen Rentiers das Wesen als das Wesen der Erscheinungen selbst bemühen, um in ihm den guten Grund für die freie Verfügung über ihren Reichtum, das Prinzip für ein erwünschtes objektives Verhältnis zu haben, wollen die platonischen Wesenssucher vom Wesen nur als von jener Basis für eine durch die Erscheinungswelt gerade verstellte und vereitelte Gemeinschaftlichkeit etwas wissen, das heißt, sie sind auf das Wesen als auf einen jenseits aller Erscheinungen zu suchenden guten Grund für Rechttun in der Polis, das gegen alle objektive Sinnverwirrung zu gewinnende Prinzip für ein erstrebenswertes Verhalten der Subjekte aus.

Wäre da nicht der Umstand, daß die aristokratischen Rentiers, um das Wesen als die ausschließliche materia prima, die schlechthinnige prima causa der Erscheinungswelt geltend machen zu können, die letzteren erst einmal in ihrer falschen Unmittelbarkeit, ihrer scheinbar substantiellen Gegebenheit auflösen und aufs Wesen reduzieren, im Wesen zum Verschwinden bringen müssen, die platonischen Wesenssucher hätten nicht den mindesten Grund, sich an der Wesensschau der vorsokratischen Naturphilosophie ein Beispiel zu nehmen. So aber bietet ihnen oder vielmehr dem Weisen, den sie als deus ex machina bemühen, diese maturphilosphische Wesensschau in ihrer negativen, den Rückgang aufs Wesen mit einer restlosen Reduktion der unmittelbaren Wirklichkeit koinzidieren lassenden Funktion den gesuchten Ausweg aus dem Dilemma einer Erscheinungswelt, die es um des Wissens vom Wesen willen zu beseitigen gilt und die doch als zur anthropologisch-ontologischen Grundbefindlichkeit erklärtes factum brutum eigentlich nicht zu beseitigen ist – und deshalb stellen sie ihren Weisen in die vorsokratische Tradition, lassen sie ihn den Weg der naturphilosphischen Wesensschau wandeln. Was er indes auf diesem Wege findet, ist nicht ein die Natur wirkender Stoff, Feuer, Luft oder Wasser, sondern das Maß menschlichen Handelns, Gerechtigkeit, ist nicht der Nous, der alle Dinge hervorbringt, sondern der Logos, der alle Verhältnisse ordnet ist nicht das parmenideische Sein, sondern das platonische Gute.

Das platonische Wesen ist das "Tun des Seinigen", die als ursprünglich gesetzte funktionsteilige Arbeitsgemeinschaft der Polis, ein historisches Konstitutiv, das sich wegen der gleichzeitig angenommenen ontologischen Gegebenheit der Polissituation zur zeitlos vergangenen Idee verflüchtigt. Das Modell für die Verwirklichung dieser diskreten Idee in der kontinuierlichen Erscheinungswelt der Polis liefert die spartanische Tradition: Eine der spartanischen Aristokratie vexierbildlich nachgebildete Wächterschicht sorgt unter Leitung des Weisen für die Entfernung des kommerziellen Reichtums, des Realsubstrats der die Gemeinschaft störenden Erscheinungen, aus der Stadt. Daß Platon, obwohl der kommerzielle Reichtum offenkundig zu wesentlichen Teilen hausgemacht ist, auf dessen Fremdbürtigkeit besteht, ist die Bedingung dafür, daß er die städtische Arbeitsgemeinschaft als gegen den kommerziellen Reichtum durchzusetzendes ideales Wesen der Polis überhaupt vertreten kann. Indem er so aber die als schädlich erkannte Wirkung, den kommerziellen Reichtum, als angebliches Kuckucksei aus der Stadt verbannt, um die Ursache, die städtische Arbeitsgemeinschaft, ohne diese ihre schädliche Wirkung zurückzubehalten, verkehrt sich ihm die letztere in einen Erfüllungszustand ohne Fülle, in eine nur mit nackter Gewalt aufrechtzuerhaltende leerlaufreaktive Veranstaltung. Aus der durch Reichtum Armut schaffenden Handelsrepublik wird ein krampfhaft auf die reine Subsistenz vereidigtes Arbeitslager.

Dieses durch die Erscheinungen verunklarten und vielmehr verstellten Wesens, dieses nicht Natur begründenden, sondern Gemeinschaft stiftenden, nicht den Dingen Bestand verleihenden, sondern Gemeinsinn unter den Menschen gewährleistenden politischen Prinzips beansprucht also der platonische Weise, kraft der zur reinen Konkursveranstaltung, zum reinen Erscheinungstilgungsverfahren umfunktionierten vorsokratischen Wesensschau gewahr und, aller im übrigen ausgemachten anthropologisch-ontologischen Erscheinungsverfallenheit zum Trotz, habhaft zu sein. Dabei erschöpft sich, was er demnach hat und nun durch den Mund der platonischen Wesenssucher als das Wesen geltend macht, in der ebenso anspruchslosen wie einfachen, um nicht zu sagen, der ebenso inhaltsarmen wie gemeinplätzigen Devise vom Tun des Seinigen, der – wenn man die negative Implikation hinzunimmt – doppelten Forderung, jeder möge das Seinige tun und sich nicht in Vielerlei mischen. Worauf also das Gemeinschaft stiftende und Gemeinsinn garantierende Wesen, von dem der platonische Weise unter so vielen Mühen und aller erscheinungsweltlich allgemeinen Verblendung zum Trotz das Wissen erwirbt, hinausläuft, ist der schlichte, um nicht zu sagen, naive Grundsatz, jeder möge bei seiner ökonomischen Tätigkeit und an seinem sozialen Ort, der Schuster möge bei seinem Leisten, der Lastenträger bei seinen Lasten, der Ruderer bei seinem Riemen, der Arzt bei seinen Kranken, der Händler bei seinem Geschäfte bleiben, statt sich in der Polis herumzutreiben und im Streben nach politischem Einfluß und öffentlichen Zuwendungen auf der Agora zusammenzurotten, ist. mit anderen Worten, der ebenso bodenlose wie geradlinige Vorsatz, die Polis als die durch offene Fraktionierung und heimliche Kollaboration stigmatisierte Konsumgenossenschaft, als die sie sich darbietet, abzuschaffen und als eine durch funktionelle Aufgabenteilung und reelles Zusammenwirken bestimmte Arbeitsgemeinschaft neu zu etablieren, ist, wenn man so will und wenn diese quasihistorische Sicht überhaupt mit der enthistorisierten Vorstellung von einer erscheinungsweltlichen Grundbefindlichkeit des Menschen vereinbar ist, die Abkehr von der in erscheinungsperspektivischer Befangenheit und wohlfahrtsstaatlichem Müßiggang aufgehenden gegenwärtigen Situation der Bürgerschaft und Rückkehr zu einer in nichts als in arbeitsteilig-kooperativer Tätigkeit und Engagiertheit bestehenden ursprünglichen Konstitution der Polis.

In der Tat liegt hier aber das Problem, mit dem den platonischen Weisen die Enthistorisierung des erscheinungsweltlich herrschenden Zustandes der Polis konfrontiert, zu der sich zuvor die platonischen Wesenssucher verstanden haben, um die Polis als solche und ihrer ursprünglichen Konstitution nach von aller Schuld an diesem dilemmatischen Zustand und aller Verantwortung für sein Entstehen zu dispensieren. Indem nämlich dem Weisen mit Hilfe der umfunktionierten naturphilosophischen Tradition gelingt, ein Wissen vom Wesen zu erlangen, das nichts geringeres sein will als Wissen von jener, am erscheinungsweltichen Zustand der Polis nicht nur negativ schuldlosen, sondern mehr noch zu ihm positiv alternativen ursprünglichen Konstitution der Polis, sieht er sich mit solchem Wissen doch zugleich diesem zum ontologischen factum brutum und zur anthropologischen Grundbefindlichkeit enthistorisierten erscheinungsweltlichen Zustand gegenüber, der, wie er bar jeder von der ursprünglichen Konstitution der Polis her bedingten Entstehung und Entwicklung, so auch außerstande zu aller auf die Konstitution hin bezogenen Umkehr und Wandlung ist. So sehr pro forma ihres an den Anfang der Polis verlegten Bestehens jene ursprüngliche Konstitution historisch ist, so sehr zeigt sich pro materia der als unhinterfragbarer Naturzustand gegenwärtigen Wirklichkeit der Polis das Historische der Konstitution ebensosehr zum Gespött gemacht und in den Charakter einer aus aller zeitlichen Kontinuität herausgesprengten Jenseitigkeit überführt, in die absolute Diskretheit eines außerhalb des Naturzustandes der Polis, außerhalb der erscheinungsweltlichen Höhle, freiflottierenden Seins zurückgenommen, kurz, es zeigt sich zur platonischen Idee aufgehoben. Anders als das Naturprinzip der Vorsokratiker erfüllt, so gesehen, das Gesellschaftsprinzip, das die Platoniker bemühen, voll und ganz den oben angeführten Begriff des Wesens, zeitlos vergangenes Sein und insofern nicht von dieser – ihm als absolut-diskretem Anfang gegenüber zur Sphäre sui generis geratenden – Welt zu sein. Weil die platonischen Wesenssucher die erscheinungsweltliche Wirklichkeit der Polis enthistorisieren und zum Naturzustand erklären, um sie nicht auf die in kommerziellem Reichtum und handelskapitaler Akkumulation bestehende ursprüngliche Konstitution der Polis, ihr empirisches Vergesellschaftungsprinzip, zurückführen und letzteres für schuld an der Misere jener erscheinungsweltlichen Wirklichkeit begreifen zu müssen, nimmt die unter dem Motto des Tuns des Seinigen als eine von erscheinungsperspektivischer Befangenheit freie subsistentielle Arbeitsgemeinschaft gefaßte ursprüngliche Konstitution, die sie statt dessen nun als die wiederherzustellende Wahrheit der Polis propagieren, nolens volens die Züge einer mit der erscheinungsweltlichen Realität der Polis unvermittelten anderweltlichen Idealität, eines von aller historischen Immanenz abgeschnittenen und ihr in eine gespenstische Transzendenz entrückten gegenweltlichen Prinzips an.

Und dieses gegenweltliche Prinzip soll nun aber zugleich doch als Prinzip der es kategorisch ausschließenden und in eine zeitlos vergangene Anfänglichkeit verschlagenden, in absoluter Idealität verhaltenden Realität der Polis geltend gemacht, es soll in eben der Erscheinungswelt, die kraft ihrer ahistorischen Naturzuständlichkeit unvereinbar mit ihm und immun gegen es ist, als Heilmittel und Erneuerungsrezept zur Anwendung gebracht werden. Wie soll das geschehen können? Besteht zuerst das Problem der platonischen Wesenssucher, das mit Hilfe des deus ex machina, des in die naturphilosophische Tradition gestellten und sie umfunktionierenden Weisen, gelöst wird, in der Frage, wie das Wissen vom Wesen unter Bedingungen erscheinungsweltlicher Verfallenheit und erscheinungsperspektivischer Befangenheit überhaupt zu erlangen sei, so ist nun offenbar das Problem, was sich mit dem glücklich erlangten Wissen vom Wesen unter den unverändert erscheinungsweltlichen Bedingungen eigentlich anfangen läßt. Wie sollen die Troglodyten, die kraft ihrer erscheinungsperspektivischen Befangenheit gegen das Tun des Seinigen als gegen ein zeitlos vergangenes Prinzip, eine mit dem naturzuständlichen Status quo der Polis, ihren realen Umständen, absolut unvermittelte ideale Konstitution ebenso systematisch immunisiert wie empirisch abgedichtet sind – wie sollen diese politischen Höhlenbewohner dazu gebracht werden, jenes vom Weisen als das Wesen erkannte Prinzip sich zu eigen zu machen und mit der Konsequenz einer durchschlagenden Revision der bestehenden Verhältnisse ihr Leben nach ihm einzurichten?

Auch dieses Problem wird mittels einer vom Weisen aufgegriffenen Tradition gelöst, jetzt allerdings keiner naturphilosphisch-begründungstheoretischen, sondern einer staatspolitisch-abwehrstrategischen: der Tradition spartanischer Reichtumsabstinenz. Angesichts der Immunität, die kraft ihrer Einbettung ins erscheinungsweltliche Milieu der Polis, in die zum Naturzustand erklärte Sphäre des zwischen wohlfahrtsstaatlich-distributiver Segnung und handelsrepublikanisch-akkumulativem Fluch changierenden kommerziellen Reichtums, die Bürgerschaft gegenüber der zum Wesen erklärten funktionsteilig-kooperativen Arbeitsgemeinschaft, dem Tun des Seinigen, beweist, muß der platonische Weise entweder an seiner Aufgabe, dies Wesen in der Polis zur Geltung zu bringen, verzweifeln, oder er muß der Bürgerschaft, was der Durchsetzung des Wesens hinderlich im Wege steht, eben das erscheinungsweltliche Milieu der Polis, mit Gewalt verschlagen. Wie aber läßt sich der Bürgerschaft etwas verschlagen, das qua Erscheinungswelt doch zugleich zum lebensbestimmenden Milieu, zum ontologischen Naturzustand und anthropologischen Existential erhoben ist? In ihrer Praxisnot reden an diesem Punkte die platonischen Wesenssucher Klartext und nennen die Erscheinungswelt, in der sie die Bürgerschaft naturzuständlich befangen sehen, beim Namen ihrer politisch-ökonomischen Bestimmtheit, identifizieren sie mit anderen Worten als kommerziellen Reichtum, als die Bürgerschaft korrumpierenden, weil ihre wohlfahrtsstaatlich-distributive Anspruchshaltung begründenden materiellen Überfluß und konsumtiven Luxus. Diesen Stein des Anstoßes für jede wesenbestimmte Neuordnung in der Polis muß der Weise, will er nicht das Wesen in der Idealität, in der er es auffindet, als Gegenstand einer praxislosen Schau, reiner Theorie, für sich behalten und als Gegenstand eines bloß privaten Wissens pflegen, aus der Stadt entfernen.

Und als Vorbild für solch eine Verfahrensweise bietet sich natürlich das Vorgehen der Spartaner, der armen aristokratischen Vettern vom Lande, an, die sich ja eben hierzu verstanden haben, den kommerziellen Reichtum und allen untrennbar mit ihm verknüpften Überfluß und Luxus aus ihrem Gemeinwesen zu verbannen, um es vor den schädlichen, die Gemeinschaft zerspaltenden, den Gemeinsinn zerstörenden Einflüssen dieser austauschentsprungenen kritischen Masse zu bewahren. Nur daß Aufgabe der Spartaner nicht sowohl war, den Reichtum aus dem Staat zu entfernen, diesen vom Überfluß und vom Luxus zu säubern, sondern den Reichtum vom Staat fernzuhalten, Überfluß und Luxus nicht ins Staatswesen eindringen zu lassen! Und daß die platonisch-imaginierte Führungsschicht sich nicht wie die spartanisch-wirkliche Aristokratie von einem gegen die Machtfülle, die der eindringende kommerzielle Reichtum dem theokratischen Herrscher zu bescheren droht, aufbegehrenden sozialen Standesinteresse und politischen Selbstbehauptungswillen bestimmen läßt, sondern von der Wesenserkenntnis des Weisen geleitet wird, an der sie in beschränktem Maße und auf unbestimmte, eher an Indoktrination und Gehirnwäsche als an Einsicht und Überzeugung gemahnende Weise partizipiert. Entsprechend artifiziell und unglaubwürdig, gespenstisch und ihrem spartanischen Vorbild unähnlich nimmt sich diese als Hilfstruppe des Weisen, als Wächter gegen die Verderbnis durch den Reichtum, eingesetzte platonische Führungsschicht denn auch aus. Wenn Platon sie als Hunde beschreibt, so trägt er unwillkürlich dem ebenso unmenschlichen wie prinzipientreuen Charakter, dem abgerichtet roboterhaften Zuschnitt dieser Gruppe von Edlen Rechnung, die leisten sollen, was Menschenkraft nicht zu leisten vermag, die nämlich gegen die Natur der Polisbürger, ihre Erscheinungsverfallenheit, ihre Abhängigkeit von Ansprüche weckendem Überfluß und zu Müßiggang verführendem Luxus, das damit unvereinbare Wesen der Polis, ihr als Tun des Seinigen ausgesprochenes arbeitsteilig-kooperatives Funktionieren, dennoch und mit Gewalt durchsetzen sollen.

So also lösen die platonischen Wesenssucher das Dilemma der erscheinungsverfallenen Polisgemeinschaft, sprich, das Dilemma einer Gemeinschaft, die sich in den Teufelskreis aus handelskapitalistisch-akkumulativen Strategien, dadurch heraufbeschworener sozialer Not, zur Linderung der Not erhobenen wohlfahrtsstaatlich-distributiven Ansprüchen und zur Befriedigung der Ansprüche wiederum nötig werdender Verstärkung der handelskapitalistisch-akkumulativen Strategien verstrickt findet. Den politisch-ökonomischen Teufelskreis als solchen ignorierend und die wohlfahrtsstaatlich-distributive Anspruchshaltung qua Erscheinungsperspektive zum anthropologischen factum brutum, zur Natur der Polisbürger, erklärend, weisen die platonischen Wesenssucher den Polisbürgern quasi phänomenologisch die Eitelkeit und Selbstwidersprüchlichkeit ihrer Fixiertheit an die Erscheinungen nach und kreieren als deus ex machina den philosophischen Weisen, der in umfunktionierender Aufnahme der vorsokratisch-naturphilosophischen Tradition die Erscheinungswelt transzendiert und, aller Fixierung an sie und ihre Güter zum Trotz, das Wesen der Polis, das Gute, die von Erscheinungssucht freie Haltung arbeitsteilig-kooperativen Bürgerfleißes, die Gemeinschaft als systematisch-subsistentielle Veranstaltung, die Polis als das ebenso strukturell geordnete wie funktionell gegliederte Ganze eines in einfacher Reproduktion begriffenen Organismus, schaut und verkündet. Und dieses ideale Wesen der Polis setzt nun also der Weise gegen die reale Natur der Polisbewohner mit der diktatorischen Gewalt des ans spartanische Vorbild angelehnten Wächterstaates durch: Er entzieht durch seine Elitetruppe der realen Natur der Polisbewohner, ihrer Erscheinungsverfallenheit, deren grundlegende Realität, die kurzerhand als Luxus und Überfluß, als der kommerzielle Reichtum der Polis, dingfest gemachten Erscheinungen, verbannt den Reichtum in Bausch und Bogen aus der Stadt und behält die Polisbewohner als um ihre objektive Determination, ihre natürliche Disposition gebrachte trieb- und willenlose Manövriermasse für seine auf die Verwirklichung des Wesens der Polis gerichteten Strategien zurück.

Die Lösung für das politisch-ökonomische Dilemma der Polis, das der platonische Weise bereithält, ist nicht nur aufs Ganze gesehen phantastisch impraktikabel, sie ist auch in einem aufschlußreichen Punkte denkwürdig inkonsequent. Entgegen aller auf der Hand liegenden Differenz zum spartanischen Vorbild hält Platon nämlich im Blick auf die Herkunft des verpönten Reichtums strikt an der spartanischen Perspektive fest, indem er den Reichtum als fremdbürtig, als ausländisches Erzeugnis deklariert. So offenkundig hausgemacht der Reichtum der athenischen Polis ist, sowenig will Platon davon das mindeste wissen, sosehr insistiert er vielmehr darauf, daß der Luxus und Überfluß, den der Weise die Wächter aus der Stadt verbannen und von ihr fernhalten läßt, auch von außerhalb stammt und mithin einfach nur dahin zurückexpediert wird, woher er kommt. Diese Blindheit, die an Verdrängungsleistung der bereits monierten Anthropologisierungstendenz ohne weiteres das Wasser reichen kann, hat indes ihren guten – oder besser schlimmen – Grund. Mit der Arbeitsgemeinschaft, die der platonische Weise der Polis verordnet, mit dem funktions- und kompetenzenteiligen Zusammenwirken, in das er das Wesen der Polis setzt, wird nämlich kein rudimentäres Hordendasein, kein vorzivilisatorischer Solidarverband, keine Rückkehr zu einem primitiven Kommunalismus beschworen. Wie Platons Aufzählung von Handwerkern und Gewerbetreibenden, einschließlich der Gruppe der Händler, zeigt, ist diese vom Weisen verordnete Arbeitsgemeinschaft im Gegenteil nichts anderes als die bestehende Polisgemeinschaft, die arbeitsteilig-kooperative Stadtgesellschaft in ihrer systematisch entfalteten Komplexion, ihrer breitgefächerten, facettenreichen Komplexität, nur eben gekürzt um den die Arbeitsmoral und Funktionstüchtigkeit zerstörenden Überfluß, den ökonomische Ansprüche weckenden und zur politischen Anmaßung führenden Reichtum.

Darin indes liegt das zentrale Problem der Wesensschau des platonischen Weisen, daß dieser als das Wesen der Polis eine Gesellschaft schaut und gegen alle dem Reichtum zur Last gelegte Korruption und Asozialität durchzusetzen sucht, die doch in Wahrheit Hauptquelle und vornehmste Urheberin jenes sie korrumpierenden und fraktionierenden Reichtums ist. Zwar ist es in der Tat fremdländischer Reichtum, Überfluß aus den umliegenden theokratischen Gesellschaften, dessen durch Zwischenhandel, durch kommerzielle Vermittlungstätigkeit, betriebene Akkumulation den Grund für die Polis legt und nämlich den als kritische Masse firmierenden handelskapitalen Fundus schafft, der zum Attraktions- und Organisationspunkt, zum Kraftfeld und zum Entfaltungsraum für den zu ökonomischer Selbständigkeit und politischer Mitsprache disponierenden neuen Gemeinschaftstyp einer auf Güteraustausch basierenden Distribution der Subsistenzmittel wird. Aber diese im Kraftfeld des bereits akkumulierten kommerziellen Reichtums entstehende und in seinem Gewahrsam Güter produzierende und Güteraustausch treibende neue Gemeinschaft, die Polis, entwickelt nun ihrerseits eine ökonomische Dynamik, die sie zur hauseigenen Hauptstütze der weiteren handelskapitalen Akkumulation avancieren läßt. Nicht nur trägt die in Korrelation zur Zunahme des Reichtums wachsende Polisgemeinschaft quantitativ oder linear zur Akkumulation bei, weil sie ja vom kommerziellen Prinzip beziehungsweise von den es durchsetzenden Handeltreibenden in der Stadt zu den gleichen expropriativen Bedingungen am Austauschsystem beteiligt wird wie die auswärtigen Kunden, die theokratischen Herrschaften und ihre Kommissionäre. Die Polisgemeinschaft leistet, wie gesehen, mehr noch einen qualitativen oder exponentialen Beitrag zur handelskapitalen Akkumulation, weil die neuen Produktionsbedingungen in der Stadt einer Entwicklung der Produktivkraft durch Arbeitsteilung, technischen Fortschritt und Rationalisierung Vorschub leisten und weil das dadurch entstehende Produktivitätsgefälle im Verhältnis zu den theokratischen Handelspartnern den Handeltreibenden der Polis überproportionale Profite sichert. Die im Kraftfeld der kommerziellen Funktion entstehende und sich entfaltende Produktionsgenossenschaft Polis trägt also kräftig und in der Tat entscheidend zum kommerziellen Akkumulationsprozeß bei. Das tut sie einerseits zwar durchaus zu ihrem eigenen Vorteil, insofern mit dieser Anhäufung von Handelskapital in der Stadt eine Verbesserung ihrer allgemeinen Lebensbedingungen, eine Hebung ihres subsistentiellen Standards, eine Vergrößerung ihrer zivilen Freiheiten, eine Stärkung ihrer politischen Mitsprache verknüpft sind. Andererseits aber schafft der entscheidend auf den Schultern der Produktionsgenossenschaft ruhende Akkumulationsprozeß die lang und breit erörterten ökonomischen und sozialen Probleme: er deklassiert durch die erdrückende Konkurrenz landwirtschaftlicher Erzeugnisse aus den Territorialstaaten die landbesitzenden Mittelschichten, pauperisiert durch die Arbeitslosigkeit und Verwohlfeilerung der Arbeit, die der Zuzug von Arbeitskräften und die Rationalisierung mit sich bringen, die unteren Schichten beziehungsweise drückt sie an den Rand des wie auch immer im Vergleich mit frondienstlichen Verhältnissen in den theokratischen Gesellschaften gehobenen Existenzminimums. Damit sorgt er für jene sozialen Spannungen und politischen Konflikte, um deren praktische Lösung die athenische Demokratie sich mit ihrer geschilderten bündnispolitisch-hegemonialen Wendung ebenso vergeblich wie aufwendig bemüht.

Und nachdem dieser demokratisch-imperiale Ausweg aus dem Dilemma fehlgeschlagen ist und die Polis sich endgültig im Teufelskreis aus einander wechselseitig provozierender handelsrepublikanischer Akkumulation und wohlfahrtsstaatlicher Distribution verfangen hat, bemühen sich nun also auch die platonischen Wesenssucher um eine – wenigstens theoretische – Lösung, die, kurz gesagt, darin besteht, daß sie in denkwürdiger Vorwegnahme des späteren geschichtsphilosophischen Modells von den entfalteten Produktivkräften als dem letzten und letztlich das Feld behauptenden Zweck aller kapitalistischen Entwicklung das Mittel der handelskapitalen Akkumulation, die Produktionsgenossenschaft der Polis, zum Zweck der Geschichte und den die Produktionsgenossenschaft als Mittel ins Leben rufenden Zweck, die handelskapitale Akkumulation, zum bloßen historischen Mittel erklären. Oder vielmehr kultivieren sie im Unterschied zur späteren Sichtweise das Modell gar nicht als historisch-genetisches, sondern sehen in dem ursprünglichen Zweck der Veranstaltung, dem Akkumulationsprinzip und seinem kommerziellen Reichtum, nichts weiter als den in die heile Welt der Polis eingedrungenen Fremdkörper, während sie das Resultat des Prozesses, die als Mittel zum ursprünglichen Zweck entfaltete städtische Produktionsgenossenschaft unvermittelt als das Wesen der Polis, als das zeitlos vergangene Prinzip der heilen Welt geltend machen. Der Grund für diese eher von Verdrängungs- und Projektionsmechanismen als von Bewältigungs- und Aufhebungsvorstellungen beherrschte Sichtweise ist unschwer erkennbar. Allzu beschränkt ist der Geltungsbereich jenes Akkumulationsprinzips und seiner Verkörperung, des kommerziellen Reichtums, allzusehr eingebunden bleibt das neue Prinzip in die alten, andersartigen Wirtschaftssysteme der umgebenden Territorialstaaten, allzu abhängig vom Austausch mit deren frondienstlich erwirtschaftetem Reichtum, um eine Zurücknahme des Prinzips in das seiner Wirksamkeit entsprungene Resultat, eine positive Integration der Akkumulation in den Distributionszusammenhang der um den Markt gescharten arbeitsteilig-kooperativen Produktionsgenossenschaft, wie sie das spätere Modell ins Auge faßt, bereits irgendwie denkbar erscheinen zu lassen. Zu wenig total und als Totalität verfügbar ist mit anderen Worten der in den Kontext territorialherrschaftlicher Reichtumproduktion funktionell eingebundene und strukturell auf ihn angewiesene kommerzielle Reichtum, als daß die von letzterem ins Leben gerufene städtische Produktionsgenossenschaft, so entscheidend sie auch an seiner Hervorbringung beteiligt und sosehr er also bereits ihr Werk sein mag, jene Umkehrung der Zweck-Mittel-Relation, die das spätere Modell in Aussicht nimmt, im entferntesten nahelegen und nämlich die Möglichkeit ins Blickfeld rücken könnte, den in der Anhäufung von Reichtum bestehenden ursprünglichen Zweck, dem sie, die marktmäßig organisierte Arbeitsgemeinschaft, ihre Existenz verdankt und als ein Mittel dient, als den selbstbestimmten Zweck, als der er sich geriert, abzudanken und in ein kontrolliertes Mittel ihres eigenen, zum Zweck erhobenen wohlhäbig subsistentiellen Bestehens umzufunktionieren.

Und zu offenkundig ist andererseits aber auch der empirische Zusammenhang und die systematische Verschränkung der städtischen Produktionsgenossenschaft mit dem für die Polis konstitutiven kommerziellen Akkumulationsprinzip, zu ersichtlich ist nicht nur die entfaltete Produktionsgenossenschaft Frucht und Ergebnis der Anhäufung kommerziellen Reichtums, sondern auch umgekehrt die Anhäufung kommerziellen Reichtums Inhalt und Ziel der entfalteten Produktionsgenossenschaft, als daß es möglich wäre, sich beides in seiner empirischen Wirklichkeit und systematischen Wahrheit vor Augen zu stellen, um dann das eine, die Produktionsgenossenschaft, vom anderen, dem kommerziellen Reichtum, abgelöst und in eine eigenständige Existenz überführt, die voll entfaltete Arbeitsgemeinschaft vom gleichermaßen als ihr Entfaltungsmotiv und ihr Beweggrund firmierenden Akkumulationsprinzip kurzerhand emanzipiert und in der ganzen Unmittelbarkeit einer rein subsistentiellen Veranstaltung sich selbst überlassen zu imaginieren. Wollen die platonischen Wesenssucher das eine festhalten und das andere loswerden, wollen sie die städtische Produktionsgemeinschaft, gekürzt um den kommerziellen Reichtum, haben, so müssen sie den letzteren vorweg aus dem Verhältnis herausdenken, müssen ihn in seiner wirklichen empirischen Gestalt und seiner wahren systematischen Bedeutung im Vorhinein verdrängen. Eben das tun sie, indem sie ihn in Anlehnung an das spartanische Vorbild gegen alle in der Polis mit Händen zu greifende Tatsächlichkeit zu etwas Äußerlichem, mit der Polis ursprünglich nichts zu schaffen Habendem, erklären, ihn als Fremdkörper behandeln.

Erleichtert wird ihnen diese Eskamotage des als kommerzieller Reichtum ihre Vorstellungskraft beschwerenden und lähmenden Steins des Anstoßes aus dem ihm eigenen Wirkungskreis in der Polis durch seine amphibolische Natur, dadurch mit anderen Worten, daß er in der Tat jenes Moment von Äußerlichkeit und Polisunabhängigkeit an sich hat, daß in der Tat das in ihm verkörperte Akkumulationsprinzip in eigentlich untrennbarer Verquickung ebensosehr Diener und Besorger des Wohllebens fremder Herren wie Konstitutiv und Erhalter der Polis und ihrer Freiheit ist. Indem die platonischen Wesenssucher dies eigentlich Untrennbare dennoch entmischen und den Reichtum in toto dem Aspekt seiner Äußerlichkeit zuschlagen, gelingt es ihnen, die Produktionsgenossenschaft frei von ihm in Gedanken zurückzubehalten. Was sie allerdings zurückbehalten, ist die Produktionsgenossenschaft als Vexierbild ihrer selbst, ist sie als subsistentielle Gemeinschaft, geschart um das imaginäre Zentrum des verödeten Marktes, ist Erfüllung ohne Fülle, Tanz um das goldene Kalb, dem sein Kultobjekt abhanden gekommen und der zum gespenstisch gemessenen Reigen um nichts als sein eigenes Bestehen, die Idee seiner selbst, erstarrt ist. All das, weswegen die platonischen Wesenssucher die arbeitsteilig-kooperative Produktionsgenossenschaft der Polis zu bewahren und von ihrem zwieschlächtigen Entstehungsprinzip, dem ebensosehr Not und Unfrieden stiftenden wie Wohlstand und Freiheit schaffenden kommerziellen Reichtum, zu emanzipieren suchen – das ökonomische Gedeihen, die soziale Mobilität, die politische Mitwirkung –, all das geben sie im Zuge des das Prinzip nicht spezifisch aufhebenden, sondern pauschal verdrängenden Emanzipationsversuchs verloren.

Den das Geschöpf des kommerziellen Reichtums, die Polis, knebelnden und zu erdrosselnd drohenden gordischen Knoten einer handelskapitalen Akkumulation, die Armut erzeugt, die nur wiederum durch Armut erzeugende handelskapitale Akkumulation gelindert werden kann, lösen die platonischen Wesenssucher mithin um den Preis der zum Glück – wie Platons Syrakuser Debakel zeigt – wirklichkeitsfremden politischen Not- und Zwangsgemeinschaft eines vom Weisen und seinen Hunden ins Werk gesetzten ebenso fruchtlos-permanenten wie permanent-fruchtlosen Arbeitslagers. Während so aber Platon den gordischen Knoten der an sein amphibolisches Prinzip gefesselten und dessen fataler Dynamik ausgelieferten Polis theoretisch dadurch löst, daß er das Prinzip aus der Polis herausschwindelt und sie als Zerrbild ihrer selbst übrig behält, nimmt wenig später ein Platonischer Schüler zweiter Hand die Lösung praktisch in Angriff und durchhaut den Gordischen Knoten mit der Schärfe des Schwertes – Sinnbild für eine Polis, die sich aus einem mittels Produktivität und Austausch erfolgreichen ökonomischen Teilhaber am Reichtum der traditionellen territorialherrschaftlich-frondienstlichen Gesellschaften in einen kraft Aggressivität und Expansion an jenem Reichtum partizipierenden militärischen Tributnehmer verwandelt, sprich, aus dem profitierenden Vertreiber eigenen in den requirierenden Vereinnahmer fremden Reichtums umfunktioniert, aus einem halbwegs gemeinnützigen kommerziellen Verein in einen vollständig eigennützigen imperialen Verband umgerüstet zeigt.

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