Zum Geleit

Der folgende Traktat erschien 1990 in einer kleinen Auflage im Reiner Matzker Verlag, Berlin. Die Auflage ist mittlerweile vergriffen; der bis auf kleine stilistische Eingriffe unveränderte Neudruck entspringt der Überzeugung des Verfassers, dass sowohl das Thema als auch die Behandlung, die ihm hier zuteil wird, nichts von ihrer Aktualität verloren haben.

Als der Traktat entstand, gab es, wie der erste Teil belegt, noch den für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmenden Gegensatz zwischen einem in der Ausbreitung einer zukunftslosen Gegenwart zunehmend aus der Geschichte sich lösenden, virtuell werdenden Westen und einem im Starren auf eine gegenwartslose Zukunft zunehmend der Vergangenheit anheim fallenden, obsolet werdenden Osten; abgeschlossen wurde der Text, wie der "Nachklapp" bezeugt, just in dem Augenblick, als der Gegensatz sich zugunsten eines Westens auflöste, der mit seinem Modell zukunftsloser Gegenwart scheinbare Universalität erlangte und den Osten als zukunftsorientierte Alternative zu dem erklärte, was er mangels Gegenwart längst geworden war, zur Vergangenheit.

Entsprechend der zentralen Rolle, die ihnen in den hochindustrialisierten Gesellschaften spätkapitalistischen Zuschnitts im Hinblick auf die Stiftung, die Indoktrination und die Unterhaltung gesellschaftlichen Bewusstseins zufällt, waren die westlichen Medien (die allein Gegenstand des Traktats sind) an diesem konkurshaften Übergang in die Welt der einen zukunftslosen Gegenwart maßgeblich beteiligt – kommentierend, interpretierend, dirigierend, antizipierend. Sie sind gestärkt und selbstbewusster denn je aus dem Prozess hervorgegangen. Wie das System, dem sie dienen, haben auch sie zusätzlich zu der Allgegenwart, die ihnen bereits eignete, scheinbare Universalität gewonnen: Sie sind befreit von ihrem östlichen Gegenstück, das sie in ihrem Geltungsanspruch einschränkte, auch wenn es de facto nur ihr Vexierbild war, weil es haargenau die gleichen Synthesisaufgaben wahrnahm wie sie, nur eben im Dienste eines Systems, das seinem abstrakten Prinzip nach mit der gesellschaftlichen Synthesis nicht die Medien, sondern die Menschen betraute und das, weil es entgegen solch hohlem Anspruch in der gesellschaftlichen Praxis die Synthesisaufgabe dennoch den Medien übertrug, die letzteren in ein einziges großes Gemisch aus Zuchtmeister, Schulmeister, Rosstäuscher, Lügenbaron und Animateur, kurz, in ein Unterhaltungsprogramm aus dem Schwarzen Kanal und unter staatlicher Regie verwandelte.

Diesen falschen Gegenspieler, dieses Zerrbild ihrer selbst, sind also die westlichen Medien nunmehr los. Nicht mehr mit ideologischen Unterwanderungsaufträgen und scholastischen Abgrenzungsansinnen belastet, können sie sich ganz ihrer im Traktat beschriebenen eigentlichen Aufgabe einer Rechtfertigung und Verklärung der kapitalistischen Verwertungsordnung zum Zwecke der Gewährleistung gesellschaftlicher Synthesis widmen. Indes, sie können es nicht nur, sie müssen es auch! Mit der Erfüllung ihrer apologetisch-metamorphotischen Aufgabe haben sie mittlerweile alle Hände – oder besser Kanäle – voll zu tun. Die Universalität und schrankenlose Repräsentativität, deren sich die konsumgesellschaftliche Verwertungsordnung der westlichen Kapitalgesellschaften, die als Nationen firmieren, unmittelbar nach dem großen Fressen versichert glauben konnte, nutzt sich rasch ab und wird zum faden Schein, wird fadenscheinig. Jene Konkursmasse, die sie, wie der politischen Ideologie und dem formellen Anspruch nach erledigt und im Schoß der Vergangenheit beigesetzt, so der ökonomischen Realität und dem materiellen Bestand nach verschlungen und sich selber einverleibt haben – sie liegt den kapitalistischen Gesellschaften jetzt wie ein Stein im Magen. Dilemmatisch eingeklemmt zwischen dem durch die krisenhaft überhöhte Produktivität der kapitalistischen Gesellschaften genährten Bedürfnis, sich unliebsame Konkurrenz auf dem Markt zu ersparen und sich die angeschlossenen Territorien als Absatzgebiete für die eigene Überproduktion zu erhalten, und der den finanziellen Lasten, die der Anschluss für die kapitalistischen Staatshaushalte mit sich bringt, entspringenden Notwendigkeit, den Aufbau funktionierender Industrien in den angeschlossenen Gebieten zu fördern und sich damit eben die neue Konkurrenz zuzuziehen, die zum i der allgemeinen Überproduktion das Tüpfelchen beizusteuern verspricht – eingeklemmt in solch kolikenträchtigem Dilemma erfahren diese Gesellschaften in völlig neuer Form, aber am unverändert eigenen Leib, was Marx meint, wenn er den kapitalistischen Produktionsverhältnissen eine immanent unaufhebbare Widersprüchlichkeit attestiert. Die mit der pauperistischen Dritten Welt historisch bewährte "Arbeitsteilung", die letztere in der Rolle eines Lieferanten billiger Rohstoffe und eines Abnehmers überschüssiger Industrieprodukte arretiert, diese Arbeitsteilung, die auch dort sogar schon Aufweichungs- und Verfallserscheinungen zeigt, lässt sich in bezug auf die als Konkursmasse übernommenen sozialistische Zweite Welt wegen deren räumlicher Nähe und relativen Gleichzeitigkeit in der Entwicklung unmöglich übernehmen und unter keinen Umständen dauerhaft praktizieren: Die Probe aufs Exempel der ökonomischen Integrations- und politischen Assimilationsfähigkeit der kapitalistischen Ersten Welt ist also unausweichlich und durch keine Strategien ökonomischer Knebelung und politischer Abschottung zu verhindern.

Dem Reflexionsorgan der kapitalistischen Gesellschaften, den Medien, ist diese Tatsache nicht verborgen geblieben. Auf die dem politisch-ökonomischen System drohende Zerreißprobe reagieren sie teils mit sibyllinischen Krisenahnungen, teils mit scharfmacherischen Durchhalteparolen. Was sie unter dem Eindruck der Konflikte und Verwerfungen verlautbaren, die sich unter der Oberfläche der scheinbaren Universalität des Systems anbahnen, ob sie sich nachdrücklicher als jede Liberalenpartei für die Freigabe der Ladenschlusszeiten zwecks Ankurbelung des Konsums einsetzen oder ob sie sich entschiedener als jeder Arbeitgeberverband für die Senkung der "Lohnnebenkosten" zwecks "Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland", sprich, für die Verbilligung des Kapitalfaktors Arbeit, stark machen – was sie also im einzelnen an Qualifiziertem und Unqualifiziertem fordern, ist sekundär gegenüber der Tatsache, dass sie sich solcherart in die Positur des überparteilichen Mahners und völkischen Ordnungshüters werfen, der die auf das höchste Gut kapitaler Rentabilität gerichtete schrankenlose ökonomische Leistungs- und politische Anpassungsbereitschaft zu einem über allen Ideologieverdacht erhabenen objektiven Erfordernis erhebt. Den nur scheinbar widersprüchlichen doppelten Aufruf zu Konsumdisziplin und Abbau des Sozialstaats, zu dem die großen Parteien sich aus Angst vor dem Unwillen ihrer Wähler nicht oder nur halbherzig oder andeutungsweise bereit finden, übernehmen die Medien und lassen ihn von sämtlichen drucktechnisch oder elektronisch errichteten Kanzeln ertönen. Sie können das tun, weil das Publikum, an das sich ihr Aufruf richtet, nicht die in die empirischen Verhältnisse der Gesellschaft leibhaftig und persönlich verstrickte arbeitende Bevölkerung ist, sondern vielmehr diese arbeitende Bevölkerung in der schizophrenen Verdoppelung eines konsumierenden Volkes, das vor seinem illuminierten Bildschirm ganz bildsüchtiges Auge, ganz lautgieriges Ohr, hinter seiner illustrierten Zeitung nichts als informationshungrig-kluger Kopf ist. Diesem Konsumvolk machen sie klar, dass es seinen im Lehnstuhl vor dem Fernsehschirm gipfelnden Konsumentenstatus sich nur wird erhalten können, wenn es bereit ist, sich als arbeitendes Subjekt den kapitalen Notwendigkeiten der Gesellschaft zu unterwerfen und zum Opfer zu bringen. Es spricht für den Grad unserer allgemeinen Schizophrenie, dass diese alltäglich in Druckerschwärze und in digitalen Daten zelebrierte Münchhausiade, der zufolge wir die ökonomisch Begünstigten des kapitalistischen Systems nur bleiben können, wenn wir alle sozialen und politischen Ansprüche an das System aufgeben, uns als konsumierende private Bürger nur im Sattel werden halten können, wenn wir uns als produzierende gesellschaftliche Subjekte demontieren lassen, uns am Schopf aus dem Sumpf nur ziehen können, wenn wir bereit sind, ihm unseren Körper zu übergeben – dass also diese Münchhausiade ihrer Irrenlogik zum Trotz als ebenso ernst zu nehmender wie ernstgemeinter Diskussionsbeitrag oder vielmehr Appell an die staatsbürgerliche Vernunft Aufnahme findet.

Ob die Medien mit ihrem Sanierungsprogramm, das sich um das absolute Pradox einer Verbindung von wohlfeiler Arbeit und Konsumterror dreht, Vorkämpfer einer neuen volksgemeinschaftlichen Disziplinierung der Gesellschaft sind oder bloß das letzte Gefecht einer verbalen Konfliktbewältigung und imaginären Gesundbeterei schlagen, ob es sich dabei also um einen Beitrag zum Faschismus oder um Jesuiterei handelt, muss die Geschichte zeigen – jene Geschichte, die, wie sehr auch unbemerkt von den Medien und allen medialen Festschreibungstendenzen zum Trotz, ihren Lauf nimmt und sich in der Konsequenz eines gesellschaftlichen Tuns, das zum bedingten Reflex seiner eigenen, ihm als Sachzwang begegnenden Wirkungen geworden ist, naturprozessual entfaltet.

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